Die Schweiz steigt aus dem Lockdown aus. Morgen Montag öffnen Coiffeurgeschäfte, Baumärkte und Gartencenter ihre Tore wieder. Im Mai folgen die Einkaufsläden und obligatorischen Schulen. Doch der schrittweise Exit geht vielen Vertretern aus Wirtschaft und Politik zu langsam.
Mehrere Kantonsregierungen fordern vom Bundesrat eine schnellere Lockerung der Massnahmen. Die Wirtschaftspolitische Kommission des Nationalrats stösst ins gleiche Horn. Selbst Aussenminister Ignazio Cassis (59) wollte die Öffnung der Einkaufsläden vorverlegen, doch der Gesamtbundesrat lehnte ab.
Hinter den Forderungen nach einem rascheren Vorgehen steckt die Überzeugung: Je schneller der Lockdown endet, desto besser für die Wirtschaft. Daran zweifelt seit Beginn der Krise niemand – auch die Befürworter des Stillstands nicht. Die Frage lautete bisher bloss: Wie lange ist er aus medizinischen Gründen nötig? Doch nun zeigt eine neue Studie aus den USA: Je früher, intensiver und länger ein Lockdown herrscht, desto besser – für die Wirtschaft.
Vergleich mit Spanischer Grippe
Forscher der amerikanischen Notenbank Fed haben die Auswirkungen von Lockdowns in 66 US-Städten zur Zeit der Spanischen Grippe untersucht. Viele Massnahmen von 1918 gleichen denjenigen im Kampf gegen Corona: Schliessungen von Schulen, Theatern und Kirchen, Versammlungsverbote, Isolierung von Verdachtsfällen und Quarantäne. Aber nicht alle Städte setzten die Massnahmen damals gleich konsequent um.
Das Ergebnis der Fed-Studie: Städte, die früher, aggressiver und länger intervenierten, erholten sich nach der Pandemie wirtschaftlich viel schneller als solche, die später eingriffen oder den Lockdown früher abbrachen. Diese Perspektive wirft auch ein neues Licht auf den Generalstreik in der Schweiz – ausgerufen auf dem Höhepunkt der Spanischen Grippe im Herbst 1918. «Er war eine Reaktion auf das riesige Truppenaufgebot von 100'000 Mann der Schweizer Armee», sagt der Historiker Jakob Tanner (69), Verfasser des Standardwerks «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert».
Das Truppenaufgebot sei das genaue Gegenteil des Versammlungsverbots und eine epidemiologisch bedenkliche Konzentration gewesen, so Tanner. «Der Streik hingegen war ein verspäteter Lockdown. Er bewirkte eine Entschleunigung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens und trug wohl dazu bei, dass die Ansteckungskurve ab Mitte November wieder abflachte.»
Langfristige Überlegungen fehlen
Für Jakob Tanner liegt der Wert der neuen Fed-Studie auf der Hand: «In der aktuellen Diskussion fehlen langfristige Überlegungen. Die kurzfristigen Forderungen von rechtsbürgerlicher Seite verdecken die Tatsache, dass ein Lockdown selbst aus wirtschaftlicher Optik sinnvoll ist.» Nicht klug sei es dagegen, überstürzt auszusteigen. «Auch das zeigt die Studie deutlich.»
Doch in diesen Tagen herrscht Aufbruchstimmung in der Schweiz – auch in den Unternehmen. Das zeigt eine aktuelle Umfrage des Beratungsunternehmens PwC: Drei Viertel der Finanzchefs von Schweizer Firmen rechnen damit, dass in ihrem Betrieb innert der nächsten drei Monate wieder business as usual herrscht. «Schweizer Finanzchefs sind krisenerprobt», sagt Reto Brunner (49), PwC-Partner und Experte für Krisenmanagement. «Und sie sind optimistischer als ihre Kollegen in anderen Ländern.» Ist Brunner auch so zuversichtlich? «Ich verstehe den Ruf nach einer schnellen Öffnung.» Doch sie müsse vorsichtig erfolgen. «Eine zweite Infektionswelle mit Nachkorrekturen würde diesen Optimismus abrupt zerstören – und damit einen zentralen wirtschaftlichen Treiber.»
Im Gegensatz zum Rest der Schweiz verlängert der Kanton Tessin den Lockdown um eine Woche. Für die Tessiner Wirtschaft muss das nichts Schlechtes heissen.