«Die Firmen müssen allen gehören!»
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Ungerechte Schweiz:«Wenige besitzen viel und Viele nur wenig»

St. Galler Ökonomin ruft Bevölkerung zum Aktienkauf auf
«Die Firmen müssen allen gehören!»

Die wirtschaftliche Ungleichheit nimmt zu. Doch das lässt sich ändern, sagt Therese Faessler – wenn möglichst viele Leute anfangen, Aktien zu kaufen.
Publiziert: 09.08.2020 um 11:01 Uhr
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Kapitalismus produziert Ungleichheit. In der Schweiz besitzt ein Prozent der Bevölkerung 42 Prozent des Gesamtreichtums.
Foto: imago images/Shotshop
Danny Schlumpf

Kapitalismus hebt das Wohlstandsniveau – doch er verstärkt auch fortlaufend die Ungleichheit. Heute besitzt ein ­Prozent der Schweizer Bevölkerung 42 Prozent des Gesamtvermögens. «Unser Land hat eine der ungleichsten Vermögensverteilungen der Welt», sagt Robert Fluder, ­Dozent für Soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule. Vorschläge, daran etwas zu ändern, reichen von der Einführung einer Kapitalsteuer bis zum Sturz des Kapitalismus.

Doch davon hält Therese Faessler (59) nichts. Die St. Galler Ökonomin will den Kapitalismus nicht bekämpfen – sie will ihn auf den Kopf stellen. Im Visier hat sie ein zen­trales Scharnier des kapitalistischen Betriebs. «Wer Aktien hat, ist Mitbesitzer von Firmen», sagt Faessler. «Das bedeutet Teilhabe und Einfluss. Das Problem ist, dass die ­meisten Leute keine Aktien haben.» Woran das liegt? «Viele glauben, nur Reiche könnten Aktien besitzen», sagt die Gründerin der Plattform ­invested.ch. «Aber man kann 1000 Franken genauso gut investieren wie eine Million.» Im Nullzins-Zeitalter gelte nämlich auch für 1000 Franken: «Auf dem Sparkonto verlieren sie ihren Wert.»

Mitbesitzer profitieren

Nur schon deshalb sei Kapital ­besser als Cash, findet Faessler. «Solange wir nur konsumieren, pro­fi­tieren ausschliesslich die wenigen Mitbesitzer der Firmen, deren Produkte wir kaufen.» Faesslers For­derung: «Die Firmen müssen allen gehören. Dann profitieren auch alle – und der Kapitalismus wird demokratischer.»

Florentine Fellner (34) wagte vor einem Monat den Schritt. «Obwohl ich von Aktien keine Ahnung hatte», sagt die Projektmanagerin aus Wien. Bloss: «Der Bankberater deckte mich mit Unterlagen ein, die ich nicht verstand, und empfahl mir, 30'000 Euro in einen Aktienfonds zu stecken. Aber das war viel zu viel für mich!»

Das sei ein typisches Beispiel, sagt Oliver Tabino (47), Geschäftsführer der Q Agentur in Mannheim (D). «In den letzten Jahren haben die Banken ihren Beratungsapparat kon­tinuierlich abgebaut.» Viele würden deshalb zu Onlineangeboten neuer Fintech-Firmen wechseln, sagt der Markt- und Konsumforscher. «Dort fehlt allerdings die Betreuung. Doch gerade jüngere Menschen sind zwar digital versiert, aber sie wünschen auch explizit Beratung.» Florentine Fellner wandte sich schliesslich an Therese Faessler. «Nach mehreren persön­lichen Gesprächen starte ich jetzt mit 3000 Euro. Ich investiere sie in Firmen, deren Produkte ich mag.»

Kaum Kontakt mit Aktien

Damit gehört sie zu einer Minderheit. «Das ist nicht verwunderlich», sagt der Thurgauer Unternehmer Kevin Mauchle (31). «Man begegnet diesem Thema weder in der Schule noch im Freundeskreis. Hätte ich es nicht in der eigenen Familie kennengelernt, würde ich heute wohl keine Aktien ­besitzen.» Mauchles erstes Wertpapier war ein Geschenk seiner Eltern zum 16. Geburtstag: eine Aktie des FC St. Gallen.

Heute besitzt er Wertpapiere von 20 Unternehmen. Nun hat Mauchle auch für seinen Sohn ­Romeo (9) ein Aktienkonto eröffnet. «Statt ihm ein Banksparkonto zu machen, stelle ich ihm Fragen: Welche Autos findest du cool?» Wenn es Porsches seien, kaufe er ihm ein Papier des Sportwagen-Herstellers. «So verliert diese Welt für ihn das Gespenstische, bevor er selber Aktien kaufen kann.»

Steht eine Umverteilung der Ak­tien bevor? Werden die jüngeren Generationen zu aktiven Mitbesitzern von Firmen und reduzieren so die ökonomische Ungleichheit? «Es spricht einiges für die Idee», sagt Trendforscher Tabino. «Denn die Grundvoraussetzung ist gegeben: ein diffuses Gefühl, dass ein Wandel des Kapitalismus möglich ist.» Doch das Prinzip eines demokratischen Kapitalismus habe auch seine Tücken: «In der Umsetzung bedeutet es, dass noch mehr Verantwortung bei der eigenen Person liegt.»

«Corona verschärft Problemdruck»

Die jüngeren Generationen merkten, wie komplex die Welt geworden sei. «Corona hat diesen Problemdruck verschärft. Wenn nun noch mehr Entscheidungsfreiheit und Verantwortung dazukommt, kann das kontraproduktiv wirken.»

Auch Robert Fluder von der Fachhochschule Bern erkennt Schwächen in Faesslers Konzept: «Die vermögensärmere Hälfte der Schweizer Bevölkerung besitzt wenig oder gar nichts. Auch die Einkommen sind ungleich verteilt, und Haushalte der unteren Hälfte der Einkommenspyramide leben oft unter sehr knappen finanziellen Verhältnissen.» Für Fluder stellt sich deshalb die Frage: «Soll das wenige Ersparte dann so risikoreich angelegt werden?»

Therese Faessler betont: «Natürlich müssen zuerst die Rechnungen bezahlt und die Ferien finanziert sein. Doch auch ein kleines Budget lässt sich langfristig anlegen und ­diversifizieren. Das macht die Risiken überschaubar.»

Und vielleicht wird man ja auch noch steinreich dabei? «Darum geht es nicht», sagt Faessler. «Es geht um Teilhabe und Mitbestimmung – und darum, dass die kleinen Vermögen nicht noch kleiner werden.»

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