Auf einen Blick
Es ist ein früher Nachmittag Anfang August in Saint-Denis, einem Vorort von Paris. Langsam wälzt sich der Zuschauerstrom aus dem Stade de France, knapp 80'000 Menschen haben gerade die ersten Vorausscheidungen in den Leichtathletik-Disziplinen der Olympischen Spiele mitverfolgt. Unter ihnen Martin Hoffmann, geborener Thüringer. Er hatte mitgefiebert mit den deutschen Teilnehmern, die an diesem Morgen gut performten, mitgelitten mit den Schweizern, die allesamt ausschieden. Jetzt geht es zurück in die Innenstadt.
Auf einer lang gezogenen Passerelle, kurz vor den letzten Treppen, kommt der Menschenstrom kurz zum Erliegen. Ein junger Belgier im Rasta-Look spricht Hoffmann an: «Darf ich fragen, wo Sie diese coole Gürteltasche gekauft haben?» Hoffmann stutzt, dann antwortet er: «Die habe ich nicht gekauft.» – «Also haben Sie sie geschenkt bekommen?» – «Nein, die produzieren wir. Wir sind Ausrüster der Schweizer Delegation. Aber Sie können die auch kaufen. Wir haben einen Laden an den Champs-Élysées. On heisst unsere Marke.» Der junge Mann bedankt sich und zieht zufrieden von dannen. «Es passiert sehr häufig, dass wir angesprochen werden», sagt Hoffmann.
Aktienkurs verdoppelt
Kein Wunder. Denn seine Firma On schreibt gerade eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Gerade vermeldete sie ihr bestes Quartal der Firmengeschichte. Beim Börsengang 2021 an der New York Stock Exchange galt On als hoffnungslos überbewertet, verglichen mit Nike, Adidas, Puma und Co. Doch das Management hat geliefert: Mit einem Umsatzwachstum zwischen 47 und 71 Prozent in den letzten drei Jahren. Rund 2,3 Milliarden Dollar wird On heuer umsetzen, nur 14 Jahre nach der Gründung, 3500 Mitarbeiter zählt sie, Durchschnittsalter 35 Jahre.
Der Aktienkurs hat sich heuer mehr als verdoppelt – von allen Schweizer Firmen hat lediglich die winzige Biotech-Firma Kuros mehr zugelegt. Knapp 17 Milliarden Franken ist On derzeit wert, mehr als die SMI-Titel Logitech oder Sonova, doppelt so viel wie der weltgrösste Uhrenhersteller Swatch Group, vier Mal mehr als Konkurrent Under Armour, der vor Kurzem noch als der gefährlichste Herausforderer von Platzhirsch Nike galt. Ons Bruttomarge von über 60 Prozent gehört zu den höchsten der Branche, ebenso die Ebitda-Marge von knapp 19 Prozent: 80 Millionen Franken Reingewinn lieferte On 2023 ab, im neuen Jahr soll es eine halbe Milliarde werden. Kein anderes Schweizer Jungunternehmen ist derart schnell zum Konzern gereift. «Wir wollen die grösste Premium-Sportmarke der Welt werden», beschreibt Co-Gründer David Allemann die Vision.
Olympiahoch
Schweizer Jungunternehmen haben traditionell Mühe, schnell zu skalieren. On aber wuchs brutal schnell. Weil die Gründer von Anfang an alles auf eine Karte setzten, ihr gesamtes privates Vermögen investierten und Investoren mit dem richtigen Mindset fanden. Weil On ein innovatives Produkt hatte, was Dämpfung, Leichtigkeit und Effizienz der Sohle angeht und die Technologie dahinter von aussen sichtbar machte. Weil die Firma schnell ins Ausland expandierte, im Jahr zwei in die USA, im Jahr drei nach Japan. Und weil sie gut im Storytelling ist.
Und jetzt also der vorläufige Höhepunkt. An immer mehr Füssen sind die Sneakers zu sehen, gleichzeitig wächst das Bekleidungssortiment stark. Geholfen haben dabei auch die Olympischen Spiele in Paris: Sechs Medaillen wurden mit On-Schuhen gewonnen, die Firma trat zudem als Kleidungsausrüster der Schweizer Delegation auf. 40 Jahre nach Lancierung der Swatch hat die Schweiz wieder eine Lifestylemarke mit globaler Strahlkraft.
Dabei macht On vieles anders als andere Firmen. Angefangen ganz oben: Hoffmann und Marc Maurer – beide kamen 2013 von Valora zum damaligen Start-up – teilen sich die CEO-Rolle, das ist ungewöhnlich genug. Meistens wird das Konstrukt der Doppelspitze nach Fusionen gewählt (wie 1998 bei DaimlerChrysler mit Jürgen Schrempp und Robert Eaton), oder wenn man sich nicht auf einen Kandidaten einigen kann (wie bei der CS 2003 mit Oswald Grübel und John Mack).
Die Folge sind häufig unklare Verantwortlichkeiten, ineffektive Entscheidungsfindung und Konflikte, entsprechend verpönt ist das Modell. On aber setzt noch einen drauf: Die Firmengründer David Allemann, Olivier Bernhard und Caspar Coppetti nennen sich «Executive Chairmen» und reden als Verwaltungsräte nicht nur strategisch, sondern bisweilen auch operativ mit.
Verschiedene Stärken im Management
Ein Fünfergremium an der Spitze – in einem deutschen oder amerikanischen Konzern wäre das undenkbar. «Es gibt viele Gründe, warum es bei uns funktioniert, aber es wird nicht für alle funktionieren», sagt Maurer. Die gleichen Werte und Ziele, gegenseitiges Vertrauen und kein Geltungsbedürfnis sind Voraussetzung. Und komplementäre Fähigkeiten. «Ich wäre ein schrecklicher CFO und Martin wahrscheinlich nicht die ideale Besetzung fürs Kommerzielle», so Maurer. Er kümmert sich hauptsächlich um Beschaffung und Verkauf, Hoffmann um die Finanzen – «wenn Emotionen auf Zahlen treffen», wie er es selber ausdrückt.
Um die Firmenkultur kümmern sie sich beide gemeinsam, um Schlüsselpersonalien ebenfalls. Auch die Märkte besuchen sie zu zweit – mit einer Ausnahme: Als Hoffmann vor einigen Jahren in Portland lebte, um den US-Markt aufzubauen, füllte er den falschen Visa-Antrag aus. Seither ist «Visa denied» in seinen Akten vermerkt, und er kann das elektronische Reisegenehmigungssystem Esta in die USA nicht nutzen. Dafür verbringt er mehr Zeit in Afrika.
Die Gründer befassen sich mit langfristigen Themen: Bernhard, ehemaliger Triathlet, stösst viele Produktinnovationen an, Coppetti, diplomierter Sportmarketingexperte, ist stark im Thema Nachhaltigkeit engagiert, Allemann, in einem früheren Leben Werber, kümmert sich um Design, Marketing und Produktreviews. Das passt nicht allen: Kaderfrau Jiahui Yin, seit zehn Jahren im Unternehmen und seit zwei Jahren COO, verlässt On in diesen Tagen – weil ihr die Gründer zu sehr reinreden, wie man hört (sie selbst will sich nicht äussern). Klar ist: Im Unternehmen wird die Verantwortung auf viele Schultern verteilt. «Das Geheimrezept von On sind nicht zwei oder fünf Köpfe, sondern das Team und wie es Innovation und Operational Excellence umsetzt», nennt es Maurer.
Rad neu erfinden
Zusammengehalten wird es von einer aussergewöhnlich starken Unternehmenskultur. Sie ist durch fünf Werte definiert: Positive Spirit, der Mindset, wonach nichts unmöglich ist. Athlete Spirit, der Anspruch, zu pushen und die Komfortzone zu verlassen, aber auch zu wissen, wann man sich erholen muss. Team Spirit, der Zusammenarbeit, Vertrauen, Transparenz und Respekt beschwört. Survivor Spirit, die Berücksichtigung der Nachhaltigkeit. Und, vielleicht am wichtigsten von allen, Explorer Spirit: die Dinge anders zu tun als die Benchmark.
Entstanden ist dieser Mindset aus der Not, denn weil es in der Schweiz keine Sportschuhindustrie gibt, musste man anfangs Quereinsteiger ohne Branchenerfahrung rekrutieren. Und die fanden eigene Wege. Sie sind inzwischen zum Markenzeichen geworden. Deshalb gibt es am Zürcher Hauptsitz die erste rein vegane Kantine der Schweiz, auch wenn hierzulande nur 0,5 Prozent der Bevölkerung vegan ist, umgerechnet also 5 der 1000 Angestellten dort. Deshalb dachte man sich das Schuh-Abo aus und Tools zur digitalen Laufanalyse.
Deshalb entwickelte man eine Art Apothekerschrank mit Schuharchiv, damit der Kunde im Laden innert Sekunden im Testschuh steht und der Verkäufer nicht minutenlang im Lager verschwindet auf der Suche nach der richtigen Box. «Manchmal erfindet man das Rad neu und verliert so viel Zeit», sagt einer, der es erlebt hat. «Wir wollen keinen Buchhaltungsprozess neu erfinden», sagt Britt Olsen, Chief Commercial Officer im Konzern: «Aber wenn es um das Kundenerlebnis geht, ist das ein wichtiger Differenzierungspunkt.»
Produziert wird in Vietnam
Dinge schnell auszuprobieren und bei Misserfolg zu verwerfen, das sogenannte Rapid Prototyping, kennt man sonst von Tech-Start-ups; bei On ist es auch als Milliardenkonzern noch Usus. Der Maker Space am Hauptsitz ist das beste Beispiel: Nähmaschinen und Pressen in allen Grössen stehen hier, 3-D-Drucker und CNC-Maschinen, auf den Tischen liegen Stoffrollen, Scheren und Klebepistolen. Kameras sind hier streng verboten, denn auf diesen beiden Stockwerken entstehen in Handarbeit die «Monster», wie man bei On die Prototypen nennt.
Einen Schuh versuchsweise zusammenbasteln, ein paar Runden Jogging zur Probe, dann korrigieren und optimieren: Alle On-Modelle haben hier ihren Anfang, weshalb stolz «Engineered in Switzerland» auf jedem Produkt vermerkt ist. In Masse produziert wird dann in Vietnam – weshalb die Schuhe hierzulande kein Schweizerkreuz tragen dürfen. Um den Premium-Anspruch zu schützen, hält man dabei das Angebot immer knapp unterhalb der Nachfrage. Auf Promotionen und Outlets verzichtet On weitgehend.
Mindestens ebenso ungewöhnlich wie die Führungsstruktur ist die -art. Bei On gibt es niemanden, der die Richtung vorgibt. Entscheide werden im Kollektiv getroffen. Maurer verwendet das Bild eines Vogelschwarms: «Es ist nicht klar definiert, wer vorne fliegt, die Positionen wechseln immer», sagt er. «Aber der ganze Schwarm fliegt in eine Richtung.» Dass ein Teil nach links will und ein anderer nach rechts, sei noch nie passiert: «Dann hätten diese Leute die Werte und die Mission nicht verinnerlicht.» Das Konzept der Schwarmintelligenz ist von aussen schwer zu verstehen, aber zahlreiche ehemalige und gegenwärtige Mitarbeiter bestätigen ihr Funktionieren. «Bei On herrscht eine sehr stark konsensgetriebene Struktur, das merkt man auf jedem Level», sagt ein Ex-Kader: «Diesbezüglich ist die Firma sehr anders als andere Unternehmen.»
Modell Bundesrat
Die Folge ist aber auch: Man verliert viel Zeit und Energie mit Diskussionen. Etwa mit den tagelangen Reviews der neuen Kollektionen zwei Mal im Jahr: «Ich kann mit David extrem tiefgehende Diskussionen über einen Reissverschluss, eine Farbe oder über die strategische Absicht eines Produkts führen», sagt Tim Coppens. Er leitet das Fashiondesign bei On, früher arbeitete er für Under Armour, Adidas und Ralph Lauren.
«Als ich dort meine Entwürfe präsentiert habe, war es eine Einbahnstrasse: Vielleicht gab es ein kurzes Feedback, und das wars auch schon. Hier diskutieren wir, bis wir ein endgültiges Ergebnis finden.» Kurzfristig mag man an Schlagkraft verlieren, doch langfristig, so ist man bei On überzeugt, nützt das Für und Wider der Firma: «Jeder kommt zu Wort, wir nutzen die Vielfalt im Team, um bessere Entscheidungen zu treffen», nennt es Europa-Chefin Bianca Pestalozzi-Houchangnia: «Die Diskussionen auf Augenhöhe machen uns innovativ und kreativ.» Abgestimmt wird quasi nie, irgendwann fügt sich die Minderheit in ihr Schicksal und zieht mit. «Disagree and commit» nennt sich das bei On, und es entspricht dem Modell des Schweizer Bundesrates.
Etwa bei Lightspray, jenem neuen Produktionsverfahren, mit dem On in den letzten Monaten viel Aufsehen erregt hat. Die Herstellung eines klassischen Sneakers benötigt mehr als 200 Arbeitsschritte und entsprechend viele Mitarbeiter, der Lightspray wird innert dreier Minuten ohne menschliches Zutun von einem Roboter aus geschmolzenem Kunststoff gespritzt, ähnlich einem 3-D-Drucker. Das spart neben den Arbeitskräften fast die komplette Zulieferindustrie, zudem kann der Schuh an jedem Ort der Welt produziert werden, umweltfreundlicher ist das Verfahren auch noch. Adidas hatte seit 2014 mit einer ähnlichen Technologie experimentiert, bis der mehr kosten- als innovationsorientierte CEO Kasper Rorsted das Projekt abschoss.
Auch Coppetti war lange nicht überzeugt von der Idee, aber er fügte sich Fürsprecher Olivier Bernhard. Jedes Jahr wurde Lightspray neu evaluiert, jedes Jahr wurde neues Geld gesprochen, bis der Durchbruch gelang. Jetzt wird die Technologie in der Branche als grösste Innovation seit Jahrzehnten gefeiert – und bei On als bestes Beispiel für den Explorer Spirit. Dabei sperrten sich Gründer und CEOs jahrelang gegen das Konstrukt der fünf Spirits, aus Angst, die Werte verkämen zu leeren Formeln, die nur auf Mausmatten gedruckt und im Intranet als Bildschirmhintergrund angezeigt werden. Schliesslich begannen sie doch mir der Umsetzung – und das umso intensiver.
Fünf bis acht Bewerbungsgespräche für einen Job
Das beginnt bereits bei der Rekrutierung. Die Firma kann sich ihre Leute aussuchen: 120'000 Bewerbungen hat On dieses Jahr bisher bekommen, 163 pro Stelle. Nur jeder 200. Kandidat wird genommen. Die fachliche Qualifikation ist nur ein Faktor im Vorstellungsgespräch. Umso wichtiger ist der Cultural Fit. Fünf bis acht Bewerbungsgespräche muss ein Kandidat in der Regel bestehen, auf jedem Panel wird er von einem Experten auf einen der Spirits geprüft. Ist der Vertrag endlich unterschrieben, dauert das Onboarding eine Woche, einer der Gründer oder CEOs ist jeweils mit dabei.
Fünf Mal pro Jahr gibt es ein Town Hall Meeting, in das sich alle 3500 Mitarbeiter einwählen, es basiert jeweils auf einem der Spirits. Die Keynotes bei den beiden jährlichen Global Meetings gehen nur um Kultur, hinzu kommen zahlreiche Offsites: Als sich die Top 17 der Firma Anfang Dezember zu einer zweitägigen Retraite auf der Lenzerheide treffen, steht ein Strategieausblick mit einem halben Tag im Programm, ebenso ein Biathlon.
Für das Thema People & Culture hingegen nimmt sich das Topmanagement einen ganzen Tag Zeit. «Es ist ‹love it or hate it› bei On», sagt ein Ex-Mitarbeiter: «Der Grossteil fühlt sich extrem wohl, den anderen hauts den Nuggi nach sechs bis zwölf Monaten raus.» Knapp fünf Prozent beträgt die Abgangsrate im ersten Jahr. Und auch das Austrittsgespräch dreht sich dann wieder um die Firmenkultur.
Rotation ist wichtig
Um sie überall auf der Welt zu bewahren, rotieren die Führungskräfte zwischen Regionen und Funktionen: Asien-Chefin Rebecca Cai etwa fing an in der Strategieabteilung, dann leitete sie ein ERP-Projekt, inzwischen sitzt sie in Shanghai. Ihre Vorgängerin Bianca Pestalozzi-Houchangnia, die einst als Praktikantin startete, leitet inzwischen das Europa-Geschäft. Auch im Hauptquartier wird fleissig rotiert. Die 18 Etagen sind in sechs sogenannte Nachbarschaften à drei Stockwerke unterteilt, jeder Mitarbeiter wird einer dieser Zonen zugewiesen. Alle zwei Jahre wechseln die Teams die Nachbarschaft. «Das ist wichtig, damit sich die verschiedenen Schwärme nicht in unterschiedliche Richtungen bewegen», sagt Pestalozzi-Houchangnia.
Die Angestellten geniessen ein grosses Mass an Eigenverantwortung: Jeder bestimmt selbst, wie viele Ferientage er macht (solange er das gesetzliche Minimum nicht unterschreitet) und zeichnet die Spesen selbst ab. Die Bonusziele sind für alle Mitarbeiter unabhängig von ihrer Position die gleichen, heuer zählen Umsatz, Profitabilität, die Weiterempfehlungsrate für den Onlineshop sowie der Marktanteil. Dieses Über-einen-Kamm-Scheren sorgt bisweilen für Unmut. Zumal das Gehalt unterdurchschnittlich ist: Auf der Bewertungsplattform Kununu ist die Entlöhnung der am schlechtesten bewertete Faktor von On (der beste ist das Image). Auch die interne Kommunikation wird immer wieder kritisiert: «Verbesserungsfähig» ist noch eines der gnädigeren Urteile, «eine grosse Enttäuschung» oder «kaum vorhanden» sind andere Stimmen. Insgesamt kommt On auf Kununu nur auf 2,9 von 5 Punkten, lediglich 42 Prozent der Angestellten würden den Arbeitgeber weiterempfehlen. Eine ernüchternde Bilanz, die in den letzten drei Jahren kaum besser geworden ist.
Auch bei der externen Kommunikation gibt die Firma ein unglückliches Bild ab. Zweimal geriet On in einen Shitstorm: Als die Co-Gründer und Co-CEOs im Jahr des Börsengangs eine Kompensation von 17 Millionen Franken pro Person erhielten – obwohl das in den USA, wo das IPO stattfand, niemanden jucken würde. Und als bekannt wurde, dass On trotz Verkaufspreisen von über 200 Franken seinen Zulieferern in Vietnam pro Paar Schuhe weniger als 20 Franken zahlt – obwohl das branchenüblich ist.
Der Börsengang spülte 700 Millionen Dollar in die Firmenkasse, mit denen die weitere Expansion finanziert wird. Übernahmen stehen dabei aber nicht zur Debatte, aus Markensicht machen sie keinen Sinn. Aber das IPO brachte On einen Boost in Sachen Brand Awareness, besonders in den USA. Es gab noch einen anderen Effekt: «Der Börsengang hat uns viel professioneller werden lassen: Die Leute ziehen uns zur Verantwortung, jedes Quartal aufs Neue», sagt Allemann. Grosse Auswirkungen befürchtete man auf die Firmenkultur. «Tatsächlich hat sich kulturell durch den Börsengang erstaunlich wenig geändert», sagt jemand, der ihn erlebt hat. Auch, weil das Management in den 18 Monaten davor intensiv am Thema arbeitete.
Neue Villa für On-Gründer
Die Führungscrew ist durch das IPO reich geworden, sehr reich: Allemanns Aktienanteil (4,7 Prozent) ist derzeit 776 Millionen Franken wert, Coppettis 5 Prozent 826 Millionen, die 5,7 Prozent von Bernhard gar 941 Millionen. Hoffmann und Maurer (je 1,8 Prozent) können sich über 250 bzw. 244 Millionen freuen. Hinzu kommen ein jährliches Salär von 3,4 Millionen für jeden Gründer bzw. je 4 Millionen für die Co-CEOs. Viel habe sich im Privatleben dadurch nicht geändert, ist das Narrativ, das die Führungscrew verbreitet. «Ich wohne weiter in der Stadt Zürich, mein Arbeitsweg mit dem Bike führt mehr oder weniger den gleichen Weg entlang wie zu meinen Uni-Zeiten», sagt Allemann.
Was er nicht sagt: Er bewohnt seit wenigen Wochen eine Villa an bester Lage am Zürichberg. Bei Coppettis Adresshistorie kam im Sommer 2023 ein Anwesen mit Seeanstoss im Steuerparadies Bäch SZ dazu. Ihren Einfluss haben die fünf Männer an der Spitze mit Stimmrechtsaktien langfristig abgesichert: Mit 19 Prozent des Kapitals kontrollieren sie knapp 60 Prozent der Stimmen. Will einer aussteigen, haben die anderen ein Vorkaufsrecht.
Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 134 ist On an der Börse äusserst stolz bewertet, ähnlich hohe Valuations kennt man bestenfalls von Tech-Scale-ups. Um die Bewertung in Zukunft aufrecht halten zu können, muss On vor allem eines: wachsen, wachsen, wachsen. Geografisch setzt man grosse Hoffnung auf Asien, das heute erst acht Prozent der Verkäufe ausmacht, aber boomt. China soll 2026 allein zehn Prozent des Umsatzes liefern und zusammen mit Japan zum zweitgrössten Standbein für On heranreifen, noch vor Europa. Bei den Sportarten setzt man auf Outdoor, auf Einzeltraining im Gym oder auf Gruppenkurse wie Yoga und Pilates. Aber auch wenn der Team Spirit in der Unternehmenskultur hochgehalten wird: Mannschaftssportarten sind weiterhin kein Thema.
Spagat
Und dann ist da natürlich das Bekleidungsbusiness: On soll zur «Head to Toe»-Marke werden. «Zehn Prozent Umsatzanteil sind mittelfristig das Ziel, und von da an aufwärts», sagt Designer Tim Coppens: «Da liegt noch eine Menge Arbeit vor uns.» Der Lifestyleanteil soll den Performancebereich eines Tages überholen. Auch deshalb hat On Kooperationen mit der südkoreanischen Marke Post Archive Faction (PAF) und dem Luxuslabel Loewe angeschoben, auch deshalb hat man den Hollywoodstar Zendaya und die Musikerin FKA Twigs als Ambassadoren gewonnen. Beide sind gerade bei der Generation Z schwer angesagt. Zendaya wird in die Gestaltung neuer Kollektionen eingebunden sein – ähnlich wie der frühere Tennisstar Roger Federer. Die grosse Gefahr ist, dass die Marke dabei ihre Relevanz verliert. «Wenn Nike uns eine wichtige Lektion erteilt hat, dann die, dass man aggressives Wachstum nicht auf Kosten der eigenen Coolness verfolgen darf», sagt Howard Yu, IMD-Professor am Center for Future Readiness, der sich intensiv mit On befasst.
Bereits jetzt es ist ein schwieriger Spagat, der den Brand an seine Grenzen bringt: «Für eine Sportmarke ist On zu lifestylig, für eine Lifestylemarke zu sportlich», drückt es ein grosser Schweizer Retailer aus. Kommt hinzu, dass der Brand hierzulande anders positioniert ist als im Ausland: «In der Schweiz bedient On tendenziell noch immer eine technisch affine, männliche Kundschaft wie den gesetzten Banker», sagt Lukas Wanner, Sportschuhexperte und Co-Gründer der Fachmesse Sneakerness. Die Marke ist ihm zu brav: «Nike und Adidas machen Lancierungen mit Ecken und Kanten, wagen Edginess, setzen auf Typen wie Colin Kapernick. Bei On ist es Mr. Perfect Roger Federer.» Die Folge: «Die Hardcore-Zielgruppe der Influencer und der Enthusiasten, die pro Jahr für Sneakers mehrere tausend Franken ausgeben, trägt kaum On-Schuhe.» Die Grundlagen dafür müssten erst noch gelegt werden durch weitere Modekollaborationen und Spezialmodelle, auch wenn man davon vielleicht nicht viele verkauft: «Das ist Knochenarbeit!»
Viel verspricht man sich bei On von der Lightspray-Technologie. «Wir glauben an einen Riesenerfolg, das sehen wir aus den bisherigen Interaktionen rund um die Welt bereits jetzt», sagt Olsen. Doch um die Nadel wirklich zu bewegen, muss sich der Schuh millionenfach verkaufen – schwierig bei einem Paarpreis von 380 Franken. «Sonst ist es nur ein Marketing Showcase», weiss Maurer. Wichtigster Gewinntreiber aber ist das Direktgeschäft mit dem Kunden. 40 bis 50 Prozent Marge verdient ein Händler mit Sportschuhen, die möchte On gerne selbst einstreichen. Also eröffnet man wie wild eigene Stores: Zu den existierenden 47 Läden sollen jährlich 25 bis 50 neue dazugekommen – nächstes Jahr etwa am Zürcher Limmatquai im ehemaligen Musik Hug. 2026 sollen mehr als zehn Prozent der Verkäufe über die eigenen Shops erwirtschaftet werden, auch der Onlinestore wird gepusht. Haben die Auguren recht, liegt der Gesamtumsatz dann bei 3,55 Milliarden. Die Schweiz spielt dabei mit zwei bis drei Prozent Anteil bereits heute nur noch eine Statistenrolle.
Die grosse Schwierigkeit wird dann sein, den Geist der Firma beizubehalten. Vor allem stellt sich die Frage, wie lange die Schwarmintelligenz noch funktionieren kann. «Noch sehr, sehr lange», hofft Maurer: «Es ist kein Grössenthema, sondern ein Kulturthema: Sind die Individuen bereit, sich dem Schwarm und der Mission unterzuordnen?» Doch die Kultur leidet bei exponentiellem Wachstum am stärksten, das zeigen Beispiele wie Uber, WeWork oder Zalando.
Wachstumsschmerzen
Auch die Organisation muss auf die neue Grösse ausgerichtet werden: «Wie wir hergekommen sind, ist nicht, wie wir durch die nächste Wachstumsphase kommen», so Olsen. Das fängt an in der Unternehmensspitze: Ausgerechnet die Firma, die so auf dem Zeitgeist surft, hat nur eine Frau unter den neun wichtigsten Führungskräften. Auch viele Prozesse gilt es zu professionalisieren, sei es im Forecasting und in der Produktionsplanung, in der Lagerhaltung, dem Einkauf und bei den Tools. «An der organisatorischen Reife muss noch viel gearbeitet werden», so IMD-Professor Yu.
Doch jede Professionalisierung bedeutet eine Annäherung an den Industriestandard – jene Benchmark, die zu vermeiden im Explorer Spirit verankert ist. «Wir erleben gerade einige Wachstumsschmerzen, das gehört dazu», nennt es Olsen. Hinzu kommt makroökonomischer Gegenwind: «Der Schweizer Franken steigt weiter an. Und ein unvorhersehbarer Handelskrieg mit Zöllen kann die Lieferkette über Nacht unterbrechen», sagt Yu. Über all dem liegt ein grundsätzliches Problem: die Unvereinbarkeit von Masse und Exklusivität. «Niemand in unserer Branche hat bisher eine gewisse Grösse erreicht und ist dabei premium geblieben», weiss Olsen. On will es als Erstes schaffen und orientiert sich dabei an Firmen wie Apple oder Dyson.
Warnende Beispiele
Klar ist: Dieses Rennen ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Die Firma hat einen fulminanten Start hingelegt, von Anfang an ein hohes Tempo vorgegeben und dabei viele Konkurrenten hinter sich gelassen. «Am New York Marathon wären wir jetzt beim ersten Verpflegungsposten in Brooklyn, etwa fünf Kilometer nach dem Start», sagt Allemann: «Vielleicht hat der MarathON aber auch kein Ziel, sondern der Weg und das Team sind das Ziel.»
Aber Allemann ist selber Marathonläufer, und als solcher weiss er genau: Die schwierigste Phase im Langstreckenrennen kommt erst noch. Der berüchtigte «Mann mit dem Hammer», der viele Läufer in massive Probleme bringt, wartet bei Kilometer 30 bis 35. Der Streckenrand ist gesäumt mit einstigen Schnellstartern, die längst aus der Puste gekommen sind oder aufgegeben haben: Under Armour, Geox, L.A. Gear, Kangaroos oder K-Swiss, um nur ein paar zu nennen. Ihr Schicksal kennt man auch bei On genau.