So warnte SBB-Ingenieur lange vor dem Todesfall von Baden vor defekten Zugtüren
«Gehen das Risiko ein, dass ein schwerwiegender Unfall geschieht»

Ein internes Dokument beweist schwarz auf weiss: Innerhalb der SBB war spätestens im Januar 2018 bekannt, welche Gefahr von den defekten Türen der EW-IV-Wagen ausgeht. Die Bundesbahnen geraten in Erklärungsnot.
Publiziert: 31.08.2019 um 23:24 Uhr
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Aktualisiert: 01.09.2019 um 09:46 Uhr
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Am 4. August 2019 wird SBB-Zugbegleiter Bruno R. (†54) bei der Abfahrt aus dem Bahnhof Baden von einer Wagentüre eingeklemmt, mitgeschleift und tödlich verletzt.
Foto: ZVG
Thomas Schlittler

Am 4. August 2019 wird SBB-Zugbegleiter Bruno R.* (†54) bei der Abfahrt aus dem Bahnhof Baden beim Einsteigen von der sich schliessenden Tür erfasst, weil der Einklemmschutz nicht funktioniert. Zudem wird dem Lokführer durch ein Lämpchen fälschlicherweise signalisiert, dass alle Türen geschlossen seien. Ein Defekt mit fatalen Folgen: Der Zug fährt ab. Bruno R. wird mitgeschleift und tödlich verletzt.

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Seither steht die Frage im Raum: Hätte der Unfall verhindert werden können? In diversen Zeitungen melden sich über Tage und Wochen SBB-Mitarbeiter anonym zu Wort. Sie sagen, die Probleme mit den Türen der betroffenen EW-IV-Wagen seien schon lange bekannt gewesen – doch trotz Warnungen habe niemand etwas unternommen.

Die Konzernleitung hielt dagegen. SBB-Chef Andreas Meyer (58) sagte vor zwei Wochen im Interview mit SonntagsBlick, er habe nichts von defekten Türen gewusst.

Zunächst Aussage gegen Aussage

Am Freitag vor einer Woche beteuerte die Bahn zudem, es gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Meldungen bezüglich defekter Türen nicht genügend nachgegangen worden sei.

Bisher stand Aussage gegen Aussage. Nun aber zeigen interne SBB-Dokumente, die SonntagsBlick vorliegen, schwarz auf weiss: Es war tatsächlich schon lange bekannt, dass die Türen der EW-IV-Wagen nicht richtig funktionierten – und welche fatalen Folgen das haben könne.

Am 18. Januar 2018 stellte ein Systemingenieur der SBB intern einen 17-seitigen Änderungsauftrag mit dem Titel: «EW IV Einbau ­eines Türblattkontrollschalters». In der Beschreibung der geplanten Arbeiten heisst es: «Die ‹geschlossen-Posi­tion› der Türe wird nicht überwacht und soll neu mit einer Änderung zuverlässig erkannt werden. Durch den Einbau eines Türblattkontrollschalters soll die Position des Türblattes im geschlossenen Zustand zuverlässig erkannt werden. Dieser Schalter soll in die Grünschlaufe eingebunden werden und somit dem Lokführer anzeigen, ob alle Türen korrekt geschlossen sind.»

Unmissverständliche Warung

Gemäss diesem Antrag sollten 300 EW-IV-Wagen angepasst werden. Wieso nicht gleich alle der insgesamt 493 Waggons, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Als Starttermin schlug der Ingenieur den 1. August 2018 vor. Die Kosten schätzte er auf insgesamt 360'000 Franken – pro Fahrzeug hätte die Reparatur demnach bescheidene 1200 Franken gekostet.

Unmissverständlich warnt der Antragsteller vor den möglichen Folgen, falls die Arbeiten nicht vorgenommen werden: «Bei einer Nichtausführung gehen wir das Risiko ein, in Zukunft weiterhin mit offenen Türen zu fahren und dass während der Restlebenszeit des EW IV ein schwerwiegender Unfall geschieht.»

1 Jahr, 6 Monate und 17 Tage nach dieser Warnung verliert Zugbegleiter Bruno R. sein Leben. Trotz der klaren Warnung wurde die Anpassung monatelang hinausgezögert. Erst im Juli 2019 beginnen die SBB, die ersten EW-IV-Wagen mit einem zusätzlichen Schalter zur Türüberwachung auszurüsten. Der Wagen, der Bruno R. zum Verhängnis wird, war noch nicht instand gesetzt.

Kontrolle lag schon 2013 auf dem Tisch

Doch damit nicht genug. Gemäss Informationen von SonntagsBlick lag bereits 2013 ein Vorschlag für eine Türblattkontrolle der EW IV auf dem Tisch. Die Umsetzung wurde aber abgelehnt, die Unterlagen schubladisiert. Schriftlich lässt sich dies allerdings nicht einwandfrei belegen. Lückenlos dokumentiert sind die Vorgänge erst ab Januar 2018, als der entsprechende Änderungsantrag wieder aufs Tapet kam.

Jürg Hurni, zuständiger Sekretär der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV, zeigt sich schockiert über die neue Faktenlage: «Die Dokumente zeigen: Die SBB haben bewusst in Kauf genommen, dass es zu Unfällen kommen kann. Wir verlangen deshalb klare Auskunft darüber, warum eine Änderung hinausgeschoben und verhindert wurde.»

Verklausulierte Antwort der SBB

Auch SonntagsBlick wollte von den SBB wissen, wieso die Ausführung des Auftrags nicht sofort in Angriff genommen wurde, obwohl darin explizit vor dem Risiko eines «schwerwiegenden Unfalls» gewarnt wird. Die verklausulierte Antwort der Medienstelle: «Der ursprüngliche Starttermin beruhte auf einer ersten Schätzung aus dem Initialisierungskonzept vom Januar 2018. Im Rahmen des gesamten Antrag­stellungsprozesses werden technische, finanzielle, operative und rechtliche Fragen geklärt und bewilligt. Dabei kann es aus unterschiedlichen Gründen zu längeren Durchlaufzeiten kommen.»

An der Darstellung, dass CEO Meyer und die Konzernleitung nichts von defekten Türen gewusst hätten und allen Rückmeldungen bezüglich defekter Türen in ausreichendem Umfang nachgegangen worden sei, hält das Unternehmen fest: «Es handelt sich um ein Dokument, das innerhalb des SBB-Personenverkehrs behandelt wurde.» Darin gehe es um die Thematik, dass es bei den EW-IV-Wagen in seltenen Fällen dazu kommen könne, dass sich eine Tür während der Fahrt aufgrund des Luftdrucks spaltbreit öffnet.

Darauf, dass in dem Dokument nicht nur von «Fahrten mit offenen Türen» die Rede ist, sondern auch explizit vor dem Risiko eines «schwerwiegenden Unfalls» gewarnt wird, gehen die SBB in ihrer Stellungnahme nicht ein.

* Name bekannt

Kommentar von Reza Rafi über die Pannen der SBB

Am Anfang stand eine Idee. Eine gute vielleicht, mit Sicherheit eine gut gemeinte. Ende des 20. Jahrhunderts wollte man verstaubte, von Beamten geführte Staatsunternehmen auffrischen. Effizienter, schlanker und günstiger sollten sie werden. Die Forderung in den Neunzigern lautete: Weg mit dem Filz!

All dies im Dienste der Kunden und der Steuerzahler. «New Public Management» nannte man das. 1998 wurde die PTT in die Aktiengesellschaften Post und Swisscom aufgeteilt. 1999 wurden auch die SBB – unter Führung des Sozialdemokraten Moritz Leuenberger – zur AG.

Die neuen Player hegten Expansions­gelüste. Post, Swisscom und SBB genossen fortan faktisch dieselben Freiheiten wie Privatunternehmen. Aber sie waren politisch vorgegebenen Zielen unterworfen.

Die Konzerne wuchsen, die Saläre der Manager stiegen. Doch der Spagat zwischen unternehmerischer Freiheit und öffentlicher Verantwortung führte zu Spannungen. Bei der Post flogen Tricksereien auf, CEO Susanne Ruoff musste 2018 gehen.

Bei den SBB folgte Negativschlagzeile auf Negativschlagzeile. Und heute die Nachricht, dass man dort schon 2013 vom Problem mit den Zugtüren wusste – bei einem börsenkotierten Privatunternehmen würden jetzt die Investoren abspringen.

Laut Umfragen wünscht sich eine Mehrheit der Briten, die privatisierte Bahn wieder zu verstaatlichen. SBB-Chef Andreas Meyer tut derzeit sein Bestes, auch hier­zulande die Idee des «New Public Management» zu beerdigen.

Reza Rafi, Stv. Chefredaktor.

Am Anfang stand eine Idee. Eine gute vielleicht, mit Sicherheit eine gut gemeinte. Ende des 20. Jahrhunderts wollte man verstaubte, von Beamten geführte Staatsunternehmen auffrischen. Effizienter, schlanker und günstiger sollten sie werden. Die Forderung in den Neunzigern lautete: Weg mit dem Filz!

All dies im Dienste der Kunden und der Steuerzahler. «New Public Management» nannte man das. 1998 wurde die PTT in die Aktiengesellschaften Post und Swisscom aufgeteilt. 1999 wurden auch die SBB – unter Führung des Sozialdemokraten Moritz Leuenberger – zur AG.

Die neuen Player hegten Expansions­gelüste. Post, Swisscom und SBB genossen fortan faktisch dieselben Freiheiten wie Privatunternehmen. Aber sie waren politisch vorgegebenen Zielen unterworfen.

Die Konzerne wuchsen, die Saläre der Manager stiegen. Doch der Spagat zwischen unternehmerischer Freiheit und öffentlicher Verantwortung führte zu Spannungen. Bei der Post flogen Tricksereien auf, CEO Susanne Ruoff musste 2018 gehen.

Bei den SBB folgte Negativschlagzeile auf Negativschlagzeile. Und heute die Nachricht, dass man dort schon 2013 vom Problem mit den Zugtüren wusste – bei einem börsenkotierten Privatunternehmen würden jetzt die Investoren abspringen.

Laut Umfragen wünscht sich eine Mehrheit der Briten, die privatisierte Bahn wieder zu verstaatlichen. SBB-Chef Andreas Meyer tut derzeit sein Bestes, auch hier­zulande die Idee des «New Public Management» zu beerdigen.

 

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