Walpurga Nef (77) ist unzufrieden. Der Küchenchef hat das Blech falsch bestrichen. Hat statt bester Butter einfaches Bratfett genommen. Und für den Teig Kristall- statt Puderzucker bereitgestellt. So können ihre Anisbögli ja nicht gelingen!
Nef steht in der Küche von Philipp Wettach (39), um den Bauch eine violette Schürze, die weissen Rüschen sind sorgfältig geglättet. Auf der Arbeitsfläche vor ihr liegt ein handgeschriebenes Rezept. Da wird die Seniorin plötzlich unsicher: Wie viele Teile Mehl müssen es sein?
Aus ihrem Rollator kramt sie ihr Natel hervor, wählt eine Nummer im österreichischen Burgenland. Von dort hat sie das Rezept für die Anisbögli. Die müssen perfekt werden, sonst kann sie sie ja nicht verkaufen in ihrem Online-Shop.
Die Anisbögli sollen als Erste in Produktion gehen Walpurga Nef ist Pionierin. Zusammen mit fünf anderen Grosi, Philipp Wettach und der Geschäftsleitung des Altersheims Thurvita in Wil SG zieht sie ein Internet-Business auf. Chez Grand Maman heisst das Start-up der Seniorinnen. Sie wollen Produkte aus Grossmutters Zeiten wieder zum Leben erwecken, nachkochen, produzieren und verkaufen. In Läden in der Region, in Restaurants und im Internet unter www.grosi.net.
Die Anisbögli von Walpurga Nef und ein Weihachtsgetränk namens Hypokras sind die ersten Produkte, die so ausgereift sind, dass sie in Produktion gehen können. Viele weitere sollen folgen: Sirup, Konfi, Kuchen, aber auch ganze Menüs, die dann in einem eigenen Restaurant serviert werden sollen.
«Wir wollen das Essen vom Grosi, das alle immer gernhatten, unter die Leute bringen», sagt Alard du Bois-Reymond (54), CEO der Thurvita AG. Zudem wolle man das Wissen der Senioren abholen und den Damen zeigen, wie wertvoll sie und ihre Erfahrung noch immer sind.
Zu den Grosi-Gründerinnen gehören auch Anny Hämmerli (91), Sophie Böni (95), Milly Haug (85), Pia Frey (91) und Marianne Forrer (85). Das Business mischt ihren Alltag im Altersheim auf. Statt untätig auf die nächste Mahlzeit zu warten, stehen die rüstigen Seniorinnen nun in ihrer Versuchsküche, scherzhaft Labor genannt. Dort schälen sie Äpfel, fachsimpeln über die beste Art, Teig zu rühren, belegen Kuchen und formen Guetsli. Immer und immer wieder backen und kochen sie ein einziges Rezept nach – so lange, bis das Endprodukt so ist, wie es ihrer Meinung nach sein muss.
Die fertig ausgereiften Rezepte geben sie dann in die Profiküche weiter, wo Philipp Wettach und sein Team die Produkte anfertigen. «Es ist unglaublich, was da alles kommt und wie engagiert die Damen sind», sagt Alard du Bois-Reymond. «Sie haben durch das Projekt einen ganz neuen Lebensinhalt bekommen.»
Walpurga Nef zum Beispiel fuhr extra mit dem Sohn in ihre alte Heimat Kärnten. Dort hatte sie jahrelang für den Dorfpfarrer gekocht, Suppen und Desserts waren ihre Spezialität. Dort lernte sie auch die Anisbögli kennen. Eine Freundin ihrer Mutter machte sie als Einzige in der Gemeinde, jeder Dorfbewohner bekam von ihr zum Geburtstag eine Tüte voller Guetsli geschenkt. Heute ist die Dame 97 – und zeigte Walpurga Nef genau, wie sie die feinen Guetsli herstellen muss. Dieses Wissen brachte Nef mit nach Wil, wo sie nun beinahe andächtig kleine Teighaufen mit Anis bestreut.
Vreni Giger (42) beobachet sie aufmerksam. Die Spitzenköchin aus St. Gallen ist in der Fachjury von Chez Grand Maman. Zusammen mit drei Kollegen entscheidet sie, ob ein Produkt gut genug ist, um in den Verkauf zu kommen.
Giger selbst setzt in ihrem Restaurant auf saisonale Produkte aus der Region. Deshalb war für sie schnell klar, dass sie Chez Grand Maman unterstützen würde. «Es ist toll, dass diese Rezepte der Nachwelt erhalten bleiben», sagt sie. «Wenn niemand das Wissen bei den Senioren abholt, geht es einfach verloren.» Sie beisst in ein warmes Anisbögli und nickt: «Sehr lecker.»
17-Punkte-Köchin Vreni Giger unterstützt das Projekt
Walpurga Nef blickt derweil besorgt in Richtung Ofen. Nicht dass die anderen Bögli verbrennen! Doch Philipp Wettach weiss genau, wann das Blech fertig gebacken ist. Dann muss es schnell gehen, die noch heissen Bögli müssen geformt werden. «In Kärnten hat die Frau mir die heissen Guetsli um den Finger gelegt», sagt Walpurga Nef. «Da hab ich mir alle Finger verbrannt!»
Das kann ihr in Wil nicht passieren. Spitzenkoch Wettach hat eine bessere Lösung: Er zieht die Bögli über einen mit Butter bestrichenen Stecken. Und wenig später liegen sie da, perfekt geformt.
Walpurga Nef nickt glücklich. Der anfängliche Ärger ist verflogen. «Jetzt kannst du’s», sagt sie. Philipp Wettach lacht. «Sie ist eine sehr strenge Lehrerin. Aber ich habe viel von ihr gelernt!»