Wer anderen Geld leiht, kriegt dafür einen Zins bezahlt. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für Staaten, die Anleihen ausgeben. Dessen ungeachtet zeigt sich an den Kapitalmärkten derzeit ein Phänomen, dass paradoxer nicht sein könnte. Wer dieser Tage dem Staat Geld leiht, bekommt dafür keinen Zins mehr – sondern zahlt drauf.
Verkehrte Welt! Der Staat verdient daran, Schulden zu machen. Entsprechend weisen Staatsanleihen im Wert von mehr als 15 Billionen Franken negative Renditen aus.
In Deutschland sind sämtliche Staatspapiere für Investoren und Anleger ein Verlustgeschäft: Im August ist die Rendite für Bundesanleihen mit einer Laufzeit von 30 Jahren erstmals unter null Prozent gefallen. Gleiches gilt für die Eidgenossen, so heissen Schweizer Bundesobligationen. Die eidgenössischen Papiere sind über alle Laufzeiten negativ. Das ist für Anleger eine Katastrophe!
Schweiz – der sichere Hafen
Trotzdem drängen viele Investoren, allen voran institutionelle, in den Anleihemarkt. Grund dafür dürfte in erster Linie die Angst vor einer bevorstehenden Rezession sein. Politische Unsicherheiten wie der Handelsstreit zwischen den zwei grössten Volkswirtschaften der Welt – USA und China – nähren zudem die Sorgen bei den Investoren vor einem wirtschaftlichen Crash. Kommt es an den Märkten hart auf hart, sind Anleihen die sicherere Alternative im Vergleich zu Aktien und anderen Finanzprodukten.
Bei Bundesobligationen gehen die meisten Anleger davon aus, dass der Schuldner, in diesem Fall die Schweiz, das geliehene Geld zurückzahlt. «Bei vielen Investoren grassiert die Angst», bestätigt Thomas Stucki (55), Chief Investment Officer bei der St. Galler Kantonalbank. «Sie sind bereit zu negativen Renditen die Sicherheit von Schweizer Bundesobligationen zu kaufen.»
Mit anderen Worten: Die Kreditwürdigkeit der Schweiz zieht Investoren magisch an. Sie spekulieren darüber hinaus auf noch tiefere Zinsen. «In der Hoffnung, dass die Preise der Obligationen dadurch noch weiter steigen», sagt Stucki. Eine Hoffnung, die durch die abermalige Lockerung der Geldpolitik genährt wird: Die Notenbanken haben bereits auf die sich verschlechternden Wirtschaftsdaten reagiert.
Weitere Lockerung der Geldpolitik
In der vergangenen Woche hatte die US-Notenbank Fed ihren Leitzins erstmals sei 2008 gesenkt. Gleichzeitig hat Mario Draghi (71), Präsident der Europäischen Zentralbank, eine weitere Lockerung ihrer Geldpolitik für die Eurozone in Aussicht gestellt. Weltweit stehen damit die Signale auf Zinssenkungen!
Das wiederum könnte Thomas Jordan (56), Präsident der Schweizerischen Nationalbank, dazu zwingen, nachzuziehen und ihrerseits den bereits rekordtiefen Leitzins von minus 0,75 Prozent weiter zu kappen.
«Die Entwicklung der letzten Jahre wird sich fortsetzen», glaubt auch Stucki. «Die durchschnittliche Laufzeit von neuen Anleihen wird weiter zunehmen, da die Schuldner die Gelegenheit nutzen, sich für eine lange Zeit zu den ultratiefen Zinsen zu finanzieren.» Seine Prognose: «Institutionelle Investoren werden dem Markt treu bleiben, da die Alternativen fehlen.»