Schweizer Ökonom greift grosse Start-ups an
«Sie produzieren nur Datenfriedhöfe und bunte Fürze»

Die Tech-Branche boomt und mit ihr die Start-ups. Bereits 400 Jungunternehmen weltweit werden mit mindestens einer Milliarde bewertet. Das sei eine Spekulationsblase, die in die nächste Finanzkrise führen könnte, warnt der Berner Ökonom Joël Cachelin.
Publiziert: 09.11.2019 um 23:21 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2020 um 15:52 Uhr
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Immer mehr Start-ups, bewertet mit mindestens einer Milliarde Dollar, mischen in der Tech-Industrie mit. Unter ihnen auch die Schweizer Reiseplattform GetYourGuide.
Foto: Kasia Skrzypek
Danny Schlumpf

Facebook, Uber, Spotify, Zalando – sie alle haben als sogenannte Einhörner angefangen: Start-ups, die bereits vor dem Börsengang mit mindestens einer Milliarde Dollar bewertet werden.

2013 gab es weltweit 40 dieser Riesen. Heute sind es 400, darunter auch schillernde oder gar umstrittene Stars wie Airbnb, WeWork, Juul, Revolut und Flixbus. Auch drei Schweizer Start-ups gehören zum exklusiven Klub der Hochbewerteten: das Biotech-Unternehmen Roivant Sciences, die Medtech-Firma MindMaze und die Reiseplattform GetYourGuide.

«Die Einhörner definieren unsere Zukunft», sagt der Berner Ökonom Joël Luc Cachelin (37), Autor eines neuen Buchs über den Einhorn-Kapitalismus. «Sie lancieren eigene Währungen, bauen an unseren Städten, revolutionieren unser Gesundheitswesen.» In der Tech-Industrie gibt es besonders viele von ihnen, denn die Märkte der Zukunft sind digital.

Auch das 2008 gegründete Schweizer Unternehmen GetYourGuide folgt dieser Logik. Es vermittelt weltweit zwischen Anbietern und Kunden von Freizeitangeboten. «Wir haben schon über 30 Millionen Tickets verkauft», sagt CEO Johannes Reck (34). «In zehn Jahren sind wir von einem ETH-Studenten-Spin-off zu einem globalen Team von derzeit mehr als 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angewachsen.»

Schweizer Firma ist mit 1,5 Mia bewertet

Hinter den Einhörnern stehen schwerreiche Venture-Kapitalisten – professionelle Investoren, die in Jungunternehmen investieren, um ihre Anteile später mit möglichst hohem Gewinn zu verkaufen. Zu den grössten zählen Singapurs Staats-Holding Temasek und der japanische Tech-Riese Softbank. Beide haben auch in GetYourGuide investiert. Softbank ist sogar stärkster Anteilseigner des mit 1,5 Milliarden Franken bewerteten Schweizer Start-ups mit Hauptsitz in Berlin.

Einhörner wie Get-YourGuide gelten als Hoffnungsträger. Sie stehen für Kreativität, technologisches Know-how und neue Arbeitsplätze. Doch die Sache hat einen Haken, meint Cachelin: «Einhörner versprechen viel und müssen in der Gegenwart wenig beweisen.» Der Einsatz der Investoren kann sich auszahlen, muss es aber nicht. «Ein Grossteil der aufgebauschten Erwartungen bezweckt einzig, die Verkaufswerte in die Höhe zu treiben», sagt der Ökonom. «Das Resultat sind hochexplosive Spekulationsblasen, in denen Prognosen und Renditen weit auseinanderliegen.»

Die Konkurrenz ist knallhart. 92 Prozent der Technologie-Start-ups scheitern im ersten Jahr. 70 Prozent der Einhörner fressen in ihrem Leben mindestens ein anderes. Ihre Devise lautet deshalb: Wachstum um jeden Preis – ohne Rücksicht auf Verluste. Der Fahrdienst-Vermittler Uber schrieb 2018 einen Verlust von 1,8 Milliarden. Nach dem Börsengang waren es allein im ersten Halbjahr 2019 gar 5,5 Milliarden. Doch aus Sicht der Investoren spielt das keine Rolle. «Es reicht, den Wert aufzublasen und die Anteile im richtigen Moment zu verkaufen», sagt Cachelin.

Brutale Abwertungen

Ihre Verluste offenlegen müssen die Einhörner erst nach dem Börsengang. Auch GetYourGuide werden Ambitionen auf eine Kotierung nachgesagt. «Einen konkreten Zeitrahmen gibt es nicht», sagt CEO Reck. Er weiss um das Risiko. Uber-Konkurrent Lyft verlor seit dem Börsengang 33 Prozent an Wert, der Bürochat-Dienst Slack 19 Prozent. Und dem Büroraum-Vermieter WeWork bescherten die Eskapaden des mittlerweile geschassten CEO Adam Neumann (40) eine der brutalsten Abwertungen der Geschichte – noch vor dem geplanten Börsengang: von 47 auf acht Milliarden.

Was passiert, wenn sich zu viele Einhörner als leere Versprechungen ohne realwirtschaftlichen Wert entpuppen? Cachelin: «Die Abwertung der Einhörner und Ex-Einhörner könnte eine Kettenreaktion auslösen, die in die nächste Finanzkrise führt.» Nach dem Platzen der Dotcom-Blase hätten die Gescheiterten wenigstens eine digitale Infrastruktur hinterlassen. Nicht so die Einhörner: «Sie produzieren nur Datenfriedhöfe und bunte Fürze.»

Darüber lässt sich streiten. Unbestritten ist, was Einhörner wollen. «Unser klares Ziel für die kommenden Monate und Jahre ist Wachstum», sagt GetYourGuide-Chef Reck. «Derzeit sind vier von fünf Buchungen von Reiseerlebnissen offline, wir stehen also noch ganz am Anfang.»

Dieser Fokus ist auch für Ökonom Cachelin nachvollziehbar. Und doch hofft er, dass die Einhörner als Katalysatoren der Veränderung künftig vermehrt Aspekte wie Solidarität und Gemeinwohl in ihre Strategien einbauen. «Sie könnten das Pflegeheim neu erfinden oder Plastik in unseren Müllsäcken verhindern.»

Die Welt jenseits der Plattformen nicht aus dem Blick zu verlieren, gelte allerdings für uns alle. «Was hat Wert?», fragt Cachelin. «Kulturförderung zum Beispiel, ein Museumsbesuch oder ein Spaziergang im Park.»

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