Schweizer Jugendherbergen-Chefin Janine Bunte im Interview
«Meine Kinder sind jetzt 14 und 15 und noch nie geflogen»

Seit bald einem Jahr ist Janine Bunte CEO der Schweizer Jugendherbergen. Ein Gespräch über ihr gespaltenes Herz in der Klimadebatte, die Rettung überlaufener Touristen-Hotspots und immer anspruchsvollere Gäste.
Publiziert: 15.12.2019 um 10:22 Uhr
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Aktualisiert: 15.12.2019 um 12:31 Uhr
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Der Aufenthaltsraum der Davoser Jugi erinnert an die alten Zeiten. Nebst Töggelikasten stehen auch Flipperautomaten zum Spielen bereit.
Foto: Thomas Meier
Interview: Alexandra Fitz und Livia Fischer

Leicht erhöht thront die Jugendherberge über Davos-Dorf GR. 1913 wurde das Gebäude als Sanatorium «Beau-Site» für Lungenkranke gebaut. Die vielen Doppelzimmer, jedes mit eigener Dusche und WC, manche noch mit Anschluss für den Sauerstoff, und die grosszügigen Balkone zeugen von der Vergangenheit. Es nächtigen gerade ein Skiklub und ein paar Stammgäste hier. Im Aufenthaltsraum stehen Flipperautomaten und Töggelikästen. Durchs Fenster der Jugi sieht man direkt auf das 5-Sterne-Hotel Intercontinental, das «Goldene Ei». Janine Bunte (47) nimmt Platz in einem grossen Sessel. Sie ist seit Anfang des Jahres Chefin der Schweizer Jugendherbergen.

Frau Bunte, Sie sind seit 23 Jahren im Unternehmen …
Janine Bunte: Das klingt furchtbar. Aber ja, 1996 habe ich als Buchhalterin bei den Schweizer Jugendherbergen angefangen.

Hatten Sie da schon das Ziel, CEO zu werden?
Natürlich nicht! Ich war 23, da hat man noch nicht solche Pläne. Ich dachte, ich übernehme vielleicht mal ein Hotel.

Seit elf Monaten sind Sie CEO. Hat sich bereits etwas grundlegend verändert?
Es ist klar spürbar, dass ich eine Frau bin. Männer und Frauen funktionieren einfach anders. Nicht besser oder schlechter.

Was machen Sie konkret anders?
Ich führe Diskussionen anders als mein Vorgänger und bin emotionaler. Im Moment sind die Rückmeldungen noch positiv. Das wird sich auch ändern, da mach ich mir keine Illusion.

Bis jetzt gibt es keinen Grund zur Sorge. Der Sommer war ein voller Erfolg, im November fiel Rekordschnee. Ein guter Start.
Das ist super, aber ich bin nicht euphorisch. Der Herbst war nicht so gut.

Warum nicht?
Das analysieren wir gerade. Sicher ist: Die Fluggesellschaften haben gut gearbeitet. Viele Schweizer flogen ins Ausland. In unserer Brust schlagen zwei Herzen. Wir setzen uns für den Klimaschutz ein, gleichzeitig wollen auch wir die internationalen Gäste wieder in die Schweiz holen.

Wieder?
Man kann es vielleicht nicht mehr hören, aber mit der Aufhebung des Euro-Mindestkurses vor bald fünf Jahren haben wir viele ausländische Gäste verloren. Die Einheimischen können das nicht wettmachen. Das Potenzial der Schweizer, die hier Ferien machen, ist beschränkt. Im Ausland können wir neue Märkte erschliessen. Das Problem ist: Die Schweiz ist teuer. Es nützt nur bedingt, dass wir bei uns einen Durchschnittspreis zwischen 40 und 50 Franken haben, inklusive Frühstück.

In Saas-Fee kostet die Übernachtung 56 Franken.
Das ist ausgerechnet einer unserer teuersten Betriebe. Eine Jugendherberge hat klassisch Mehrbettzimmer, da verkaufen wir Doppelzimmer teurer. Die kosten 100 bis 120 Franken. Während eines Events bezahlt man auch mal 200 Franken.

Während des WEF?
Wir haben eine Spezialvereinbarung und sind eine dankbare Unterkunft für Personal.

Wer ist typischer Jugendherberge-Gast?
Wer bei uns einkehrt, ist sportlich, kulturell interessiert, offen und mag den Austausch mit anderen Gästen. Das Alter ist durchmischt – der älteste Herr war 101.

Dann passt der Name «Jugendherberge» nicht mehr?
Das könnte man so meinen. Aber wir sind für alle, die sich jugendlich fühlen.

Sind die Gäste in Jugendherbergen anspruchsvoller geworden?
Ja, ganz klar. Der Gast kommt an die Rezeption und sagt: «Ich möchte gerne um 7 Uhr geweckt werden.» Wir so: «Okayyy. Und Frühstück im Zimmer?» (lacht) Auch Flexibilität beim Einchecken und Stornieren sowie der Wunsch nach Privatsphäre werden immer wichtiger. Ein Zwanzigerschlag ist heute nicht mehr gefragt.

Schlag klingt auch furchtbar. Taubenschlag.
Ja, von da kommt es auch. (lacht)

Sind Frauen und Männer eigentlich immer noch zusammen im Mehrbettzimmer?
Wir bieten getrennte Schlafräume an, besonders wegen unseren internationalen Gästen. Das ist schwierig, weil man bei Booking.com das Geschlecht nicht angeben muss. Gleichzeitig kommen heute vermehrt gemischte Gruppen, die nicht getrennt werden wollen. Buchungen und Zimmerzuteilungen sind massiv aufwendiger geworden.

Ist es auch mühsamer geworden mit dem Essen?
Ja natürlich. (lacht) Wenn heute eine Schulklasse kommt, hat man 20 Schüler mit 20 verschiedenen Essgewohnheiten. Vom Muslim, der kein Schweinefleisch isst, über den Veganer bis zum Glutenallergiker. Wir versuchen, diesen Wünschen gerecht zu werden. Aber unsere Möglichkeiten sind beschränkt, bei uns arbeiten keine Diätköche wie im 5-Sterne-Hotel.

Manche Jugis erinnern aber immer mehr daran – mit Wellness und schöner Architektur.
Unser Designverständnis hat sich komplett verändert. Der Gast hat heute viel höhere Ansprüche. Aber das Angebot ist und bleibt einfach. Der klassische 5-Sterne-Gast wird bei uns definitiv nicht glücklich.

Als Gast hat man den Eindruck, die Abgrenzung zwischen den Unterkünften hebt sich immer mehr auf.
Der Gast ist hybrid geworden. Heute geht er campen, morgen bucht er eine Wohnung über Airbnb, und das nächste Mal schläft er in einer Jugendherberge. Ich kenne eine Finanzchefin eines grossen Unternehmens, die macht mit ihrem Mann regelmässig Wellnessferien in einem 5-Sterne-Hotel. Mit ihren Freundinnen geht sie aber jedes Jahr einmal in eine Jugendherberge ins Sechserzimmer.

Das ist doch gut für Sie.
Aber extrem anspruchsvoll, weil jeder ein Gast sein könnte. Auch den Gast überfordert dieses breite Angebot oft.

Die Jungen findet man im Ausland in Hostels, in der Schweiz, hat man das Gefühl, übernachten insbesondere Familien oder ältere Menschen in Jugendherbergen.
Es kommt auf den Ort an. Unter den Hotspots, die bei den internationalen Reisenden unter 25 Jahren zuoberst stehen, ist keine Schweizer Stadt. Das ist unsere grösste Herausforderung. Die Schweiz ist einfach zu klein. Aber Interlaken ist bei Backpackern beliebt.

Und total überlaufen. Bereitet Ihnen der Overtourism Sorgen?
Hierzulande haben nur wenige Destinationen damit zu kämpfen. Erst wenn man nach Amsterdam geht, merkt man, was Overtourism wirklich bedeutet.

Dann übertreiben die Schweizer, wenn sie jammern?
So meine ich das nicht. Destinationen wie Interlaken sind wirklich betroffen und laufen Gefahr, zu einer Geisterstadt zu verkommen. Viele Einwohner sind wegen der Touristen schon weggezogen. Wenn wir nicht sorgfältig mit den Einheimischen umgehen, verliert ein Ort an Attraktivität. Touristen wollen nicht nur andere Touristen sehen, sondern die Schweiz und deren Einwohner erleben.

Haben Sie eine Lösung?
Wir können das Angebot mit Rahmenbedingungen steuern und die Touristen besser verteilen. Seitentäler müssen an den öffentlichen Verkehr angebunden werden. So haben die Jungen mehr Arbeitsmöglichkeiten und bleiben im Dorf. Damit tun wir einem Tal aber nur bedingt einen Gefallen, denn der Tagestourismus wird gefördert.

Und die Region hat zu wenig davon.
Genau. Die Wertschöpfung am Ort ist relativ klein, weil die Touristen nicht da übernachten. Trotzdem nimmt die Anzahl Besucher massiv zu. Das macht ein bisschen Bauchweh. Es wäre viel sinnvoller, wenn Leute zwei bis drei Nächte in einer Unterkunft bleiben – nur schon aus klimatischer Sicht.

Das kommt dann auch Ihnen zugute.
Ja, aber ich sage es nicht nur deshalb. Ich sehe das permanente Unterwegssein kritisch. Hier ein Städtetrip, da ein Städtetrip. Ich fliege nicht gerne und schaue, dass ich sämtliche Auslandsreisen mit dem Zug mache. Das ist anspruchsvoll. Meine Kinder sind jetzt 14 und 15 und noch nie geflogen. Bis jetzt hats ihnen nicht geschadet.

Wie finden das Ihre Kinder?
Früher haben sie sich dafür geschämt, heute sind sie stolz.

Wie verbringt Familie Bunte ihre Ferien?
Wir gehen oft ins Engadin oder an den Comer See. Immer in der Region oder knapp ennet der Grenze.

Aber Sie gehen nicht immer in Jugis, oder?
(lacht) Meine Kinder wollen immer in Jugis. Meine ganze Familie ist total Fan.

Gemäss Geschäftsbericht wächst die Gästekategorie «Familie» am stärksten. Warum?
Wir haben vor drei Jahren Kinderpreise eingeführt, seither sind wir für Familien noch attraktiver geworden. Wir wollen auch sozial schwächer gestellten Menschen das Reisen ermöglichen.

Fakten zu den Schweizer Jugendherbergen

Unterkünfte

Zu den Schweizer Jugendherbergen gehören 51 Jugis – 45 davon führt der Verein in Eigenregie, sechs gehören dem Netzwerk als Franchisenehmer an. Zum Vergleich: Vor 83 Jahren waren es noch 208 Herbergen.

Gäste

2018 verzeichneten die Schweizer Jugendherbergen 362’445 Gästeankünfte mit total 723’030 Logiernächten. Fast 70 Prozent der Gäste sind Schweizer, gefolgt von deutschen und südkoreanischen Touristen.

Kosten

Im Schnitt kostet eine Übernachtung in einer Schweizer Jugendherberge zwischen 40 und 50 Franken inkl. Frühstück. 1924, zum Zeitpunkt der Gründung, zahlten die Gäste gerade einmal 50 Rappen.

Global

Die Schweizer Jugendherbergen sind Mitglied von Hostelling International. Sie sind mit rund 3500 Herbergen in 81 Ländern vernetzt.

Unterkünfte

Zu den Schweizer Jugendherbergen gehören 51 Jugis – 45 davon führt der Verein in Eigenregie, sechs gehören dem Netzwerk als Franchisenehmer an. Zum Vergleich: Vor 83 Jahren waren es noch 208 Herbergen.

Gäste

2018 verzeichneten die Schweizer Jugendherbergen 362’445 Gästeankünfte mit total 723’030 Logiernächten. Fast 70 Prozent der Gäste sind Schweizer, gefolgt von deutschen und südkoreanischen Touristen.

Kosten

Im Schnitt kostet eine Übernachtung in einer Schweizer Jugendherberge zwischen 40 und 50 Franken inkl. Frühstück. 1924, zum Zeitpunkt der Gründung, zahlten die Gäste gerade einmal 50 Rappen.

Global

Die Schweizer Jugendherbergen sind Mitglied von Hostelling International. Sie sind mit rund 3500 Herbergen in 81 Ländern vernetzt.

Und wie geht es den Schweizer Jugendherbergen finanziell?
Wir leiden unter dem enormen Kostendruck. Wir müssen nachhaltig finanzierbar sein und überlebensfähig bleiben.

So schlecht kann es Ihnen nicht gehen. Nächstes Jahr gehen zwei neue Jugendherbergen auf: Burgdorf und Laax. 2021 kommt eine neue in Liechtenstein dazu.
Grundsätzlich geht es uns gut. Aber Burgdorf wäre ohne die Hilfe Dritter nie entstanden. Die Bevölkerung, die Stadt, eine Stiftung sowie ein Museum finanzieren das Projekt mit. An einem Ort mit geringer touristischer Bekanntheit können wir ohne Unterstützung keine Jugendherberge auf eigene Rechnung eröffnen.

Sie sagen es: Burgdorf ist kein internationaler Hotspot. Was bietet dieser Standort dann?
Burgdorf punktet mit dem authentischen Schlosserlebnis. Das ist Geschichte pur, das muss man sich einfach anschauen. Es ist die erste Jugendherberge mit einem Museum. Sie wird wahnsinnig schön.

Und welches ist Ihre Lieblings-Jugendherberge?
(lacht) Das ist eine gefährliche Frage. Das darf ich nicht sagen.

Die treue Seele

Ihre kaufmännische Ausbildung absolvierte Janine Bunte (47) in einem Viersternehotel an der Rezeption. 1996 wechselte sie zu den Schweizer Jugendherbergen als Buchhalterin. Sie arbeitete immer Teilzeit, hatte nebenbei diverse Buchhaltungsmandate für andere Firmen. Drei Jahre später gründete sie ihr eigenes Treuhandbüro. 2010 wurde Janine Bunte Finanzchefin der Schweizer Jugendherbergen, seit Anfang dieses Jahres ist sie CEO des Vereins. Bunte ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in der Region Zürich.

Ihre kaufmännische Ausbildung absolvierte Janine Bunte (47) in einem Viersternehotel an der Rezeption. 1996 wechselte sie zu den Schweizer Jugendherbergen als Buchhalterin. Sie arbeitete immer Teilzeit, hatte nebenbei diverse Buchhaltungsmandate für andere Firmen. Drei Jahre später gründete sie ihr eigenes Treuhandbüro. 2010 wurde Janine Bunte Finanzchefin der Schweizer Jugendherbergen, seit Anfang dieses Jahres ist sie CEO des Vereins. Bunte ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in der Region Zürich.

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