Der erste Sekretär des Schweizer Bauernverbands (SBV), Ernst Laur, war 1897 der Kopf hinter der sogenannten Bauernstandsideologie. Er habe die Ideologie aktiv propagiert, sagte Karel Ziehli, Politologe und Redaktor der Chronik «Année Politique Suisse» der Universität Bern, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Den «Bauernmythos», wie ihn Ziehli nennt, heroisiere den Bauer als Träger von Schweizer Tradition und Moral.
Dadurch vereinte Laur die Landwirte und gab der Schweiz eine kollektive Identität. Laur selbst war Agronom, kein Landwirt, betont Ziehli. Die Ideologie des Bauernstands stammte also von einer elitären, gutbürgerlichen Schicht.
Auftrieb erhielt die Bauernstandsideologie im Ersten und Zweiten Weltkrieg. «Bauern galten als Retter der Nation», sagt Ziehli. Bei der Anbauschlacht sei vertuscht worden, dass bei der Rationierung der Lebensmittel die Anzahl Kalorien pro Person gesenkt wurde. Dies, um das Bild der starken Landwirtschaft beizubehalten, sagt Ziehli.
Für den heutigen Präsidenten des SBV, Nationalrat Markus Ritter (Die Mitte/SG), bedeuteten die Weltkriege und die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln eine herausfordernde Zeit für den Verband: «Viele Bauern waren im Militärdienst», sagt er auf Anfrage.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatten gemäss Ziehli Verbände allgemein einen grossen Einfluss auf die Schweizer Politik. Die Zeitung «Schweizer Bauer» sprach von einer «Schattenregierung», welche die Schweiz über Jahrzehnte geführt habe. Neben dem SBV seien auch der Schweizerische Handels- und Industrieverein, der Arbeitgeberverband, Gewerkschaftsbund und Gewerbeverband Teil der ständigen Wirtschaftsdelegation des Bundesrates gewesen.
Um die 1990er-Jahren trocknete der Politacker für den Bauernverband zunehmend aus. Die bisher geltende strenge Importpolitik - und damit einhergehend die Preise - gerieten unter Druck. Etwa durch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), den Vorgänger der Welthandelsorganisation (WTO), wie Ziehli ausführt. Der SBV demonstrierte seiner Webseite zufolge 1990 vor dem GATT-Sekretariat in Genf.
Darauf folgte im Dezember 1992 die Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). «Die Bauern haben zum EWR-Beitritt massiv Nein gesagt», sagt Ziehli. Allen voran: der heutige alt Bundesrat Christoph Blocher. Auch der Unternehmer habe sich dem Bauernmythos bedient, sagt Ziehli. Blocher warb mit umgehängten Treicheln gegen den EWR-Beitritt.
Ziehli zitiert eine Studie aus den 1990er-Jahren: 38 Prozent der Schweizer Bevölkerung verstanden sich damals als «mentale Bauern». Die Zustimmung nützte nicht gegen den Preisdruck. «Die einzige Lösung war es, Direktzahlungen einzuführen», sagt Ziehli. Die Direktzahlungen machen laut Ritter 20 Prozent des Gesamtumsatzes der Schweizer Landwirtschaft «als Entschädigung für die vom Bund beziehungsweise der Bevölkerung geforderten Leistungen aus.»
Gemäss dem SBV führte die zunehmende Konkurrenz in vielen Betrieben zu einem «massiven Zerfall der landwirtschaftlichen Einkommen». Es kam zu Protesten vor dem Bundeshaus und einem europäischen Milchstreik.
Derweil weibelte der SBV gegen ein Freihandelsabkommen mit der EU und intervenierte gegen die neue Agrarpolitik des Bundes. Der Verband bezeichnet es als «intensive Lobbyarbeit», die er hinsichtlich des sinkenden Milchpreises hingelegt hatte. Dennoch hatten sich ihm zufolge um die 2010er-Jahre die Probleme gehäuft statt gelöst.
2013 lancierte der SBV zusammen mit der SVP die eidgenössische Initiative «Für Ernährungssicherheit». Schliesslich stellte sich der Verband hinter den direkten Gegenvorschlag des Parlaments. Mit Erfolg: Fast 80 Prozent der Schweizer Bevölkerung stimmten ihm 2017 zu. Wieder der Bauer als «Retter der Nation»? Ziehli zitiert eine Studie aus diesem Jahr, bei der 95 Prozent der Schweizer Bevölkerung angegeben hatten, dass die Landwirtschaft ein wichtiger Teil der Schweizer Kultur sei.
«Mental ist die Bevölkerung der Landwirtschaft nach wie vor verbunden», sagt auch Ritter. Auch wenn ihm zufolge weniger als drei Prozent der Erwerbstätigen im Primärsektor tätig sind und das Bild der Landwirtschaft oft verklärt sei.
Die Landwirtschaft sei vielfältig. Mit Ritter steht seit 2012 ein Bio-Landwirt an der Spitze des SBV. Gemäss Statuten steht der Verband «für die umfassende Interessenvertretung des Bauernstands». Erfolgversprechend ist es Ritter zufolge, auf die Gemeinsamkeiten zu fokussieren. Für Ziehli hat der Verband die Tendenz, bei biologischen Belangen etwas zu bremsen.
Zum Unverständnis von Bio Suisse stellte sich der SBV beispielsweise gegen die Pestizidinitiative. Wieder stand 2021 die Mehrheit der Schweizer Stimmbevölkerung hinter dem Verband. Ein Indiz für Ziehli, dass der «Bauernmythos» weiterhin Auswirkungen habe.
Für die Zukunft sieht Ritter mehrere Herausforderungen. Geknüpft sind sie an den gesellschaftlichen Wandel auch im Konsum: Eine nachhaltige Produktion, den Klimawandel und die Ressourcenknappheit zählt er zu den wichtigsten. «Wir Bäuerinnen und Bauern denken nicht in Quartalen oder Jahren, sondern in Generationen», sagt Ritter.
Damit leitet er unbewusst zur Herausforderung über, die Ziehli für den Verband sieht: Die Gleichberechtigung von Bäuerinnen und Landwirtinnen mit ihren Arbeitskollegen. «Für eine Gleichberechtigung müsste ihre Arbeit anerkannt und entsprechend entlöhnt werden», sagt der Politologe.
Einen Schritt hat der Verband bereits gemacht. Mitte Juni dieses Jahres wird er gemäss «Schweizer Bauer» sein neues Logo lancieren. Mit dem historischen Wissen lässt es sich schwer anders interpretieren: Der SBV bedient sich auch hier an der Nähe der Schweizer Bevölkerung zur Landwirtschaft: «Schweizer Bäuerinnen und Bauern - für dich.»
(SDA)