Am 27. Dezember 2006 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» ein Artikel über den Rücktritt von Benedikt Weibel. Die Überschrift: «Patron und Person für Projektionen». Der Text ist eine Liebeserklärung an den langjährigen SBB-Chef: «Weibel empfahl sich geradezu als exemplarischer Held in einer Unternehmenslandschaft, die in den Augen einer breiten Öffentlichkeit zunehmend von geldgierigen Managern bevölkert ist.»
Weibel hatte die SBB 14 Jahre lang gelenkt. Seinem Nachfolger Andreas Meyer fehlen nur noch drei Jahre, um gleichzuziehen. Doch von weibelschen Lobeshymnen scheint der 56-jährige Basler unendlich weit entfernt. Wenn das Wort Patron im gleichen Text vorkommt wie er, dann höchstens deshalb, weil auch Stadler-Rail-Chef Peter Spuhler darin erwähnt wird. Mit Meyer sind die SBB ins Manager-Zeitalter übergetreten.
An Meyer führt kein Weg mehr vorbei. Seit seinem Amtsantritt Anfang 2007 sind in der SBB-Konzernleitung 18 Topmanager gekommen und gegangen. Die einzige Konstante: Andreas Meyer. Alle acht Mitglieder der aktuellen Konzernleitung wurden von ihm eingestellt. Und mit dem Ausscheiden von Jeannine Pilloud als Chefin des Personenverkehrs ist ab Montag niemand mehr übrig, der Meyer den Platz im Scheinwerferlicht streitig machen könnte.
Vom Verwaltungsrat hat Meyer momentan ebenfalls kaum etwas zu befürchten. Von dessen neun Mitgliedern ist niemand auch nur annähernd so lange an Bord wie er. Zudem ist Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar (58) durch die Enthüllungen der «Paradise Papers» angeschlagen. Die zuständige Kommission des Ständerats hat die Untersuchung wegen ihres umstrittenen Angola-Mandats ausgeweitet. «In der Beziehung zwischen Meyer und Ribar hat ganz klar der CEO die Hosen an», sagt ein SBB-Insider.
SP-Nationalrat Philipp Hadorn (50) macht sich deshalb Sorgen um das Machtgleichgewicht bei den Bundesbahnen. Der Verkehrspolitiker und Zentralsekretär der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV) stellt klar: «Ich wünsche mir einen starken SBB-Verwaltungsrat. Es ist mir ein Anliegen, dass es ein strategisches Gegengewicht gibt, das sich dem selbstbewussten CEO zu stellen vermag.»
Kein Mann des Volkes
Als Meyer im Juni 2006 als neuer SBB-Chef vorgestellt wurde, titelte der BLICK: «Als Student putzte er Waggons.» Doch als Mann des Volkes wurde Meyer nicht lange wahrgenommen. Gleich im ersten Dienstjahr liess er sich 1,2 Millionen Franken überweisen. Damit war er der bestbezahlte Angestellte eines bundesnahen Betriebs – und wurde zum «geldgierigen Manager» gestempelt. Ein Etikett, das er seitdem nie wieder losgeworden ist.
Sein Salär ist nicht der einzige Grund, wieso Meyers Popularität überschaubar geblieben ist. Mit seiner forschen, zackigen Art macht sich der gelernte Rechtsanwalt wenige Freunde. Ein Vertreter der ÖV-Branche sagt: «Ich bin froh, dass ich nur ab und zu mit ihm verhandeln muss und nicht unter ihm arbeite.» Meyer gilt als Kontrollfreak. Wenn etwas nicht nach seinem Gusto geht, redet er Tacheles.
Von SonntagsBlick darauf angesprochen, versucht der SBB-Boss zu relativieren: «Es würde mich interessieren, auf welche Zeit sich diese Vorwürfe beziehen.» Meyer sagt, er habe zu Beginn seiner SBB-Laufbahn gelegentlich autoritär auftreten müssen. Das habe sich aber geändert: «Der Vorwurf, ein Sololäufer zu sein, hat mich stark getroffen. Denn ich verfolge, wenn immer möglich, einen partizipativen Ansatz und war in anderen Unternehmen bekannt dafür, starke Teams zusammenzustellen.» Die SBB brauche eine neue Kultur: Mitarbeiter sollen selber Ambitionen entwickeln und ohne Auftrag Verantwortung übernehmen. Die Chefs sollen mit Handlungsspielräumen und Vertrauen führen. Zugleich stellt Meyer aber klar: «Ich bin kein Anhänger von Laisser-faire. Ein guter Chef zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er alles abnickt.»
Ein Abnicker ist Meyer tatsächlich nicht. Ein Exponent der Bahnindustrie: «Meyer ist ein echtes Alphatier – und kein Sympathiebolzen.» In der Branche habe man ihn nicht gern, aber man respektiere ihn. Der Insider hält jedoch fest: «Unter dem Strich fällt seine Bilanz positiv aus.»
Dass ihm sogar Kritiker Komplimente machen, spricht für Meyer. Fachkompetenz sprechen ihm nicht einmal jene ab, die das Heu nicht auf derselben Bühne haben wie er. Nach Meyers grösstem Erfolg gefragt, sagt einer: «Er hat es geschafft, dass das Schweizer ÖV-System nach wie vor gut funktioniert. Das ist angesichts des massiven Angebotsausbaus keine Selbstverständlichkeit.»
Betrachtet man die nackten Zahlen, haben sich die Bundesbahnen in der Ära Meyer bemerkenswert entwickelt: 2016 beförderten sie über 40 Prozent mehr Fahrgäste als 2006. Die Anzahl GA-Inhaber nahm in seiner Amtszeit um 50 Prozent zu. Zum Vergleich: Die Wohnbevölkerung der Schweiz wuchs im gleichen Zeitraum um zwölf Prozent. Auch Meyer ist stolz auf diese Zahlen, betont aber: «Das ist das Verdienst aller 33000 SBB-Mitarbeiter. Ich habe nur die Weichen gestellt.»
Nach weiteren Erfolgen gefragt, nennt Meyer an erster Stelle die vereinfachte Kundeninformation, zum Beispiel durch Einführung der SBB-App. Dann sagt er: «Vor elf Jahren waren die SBB eine Eisenbahngesellschaft, die am Auseinanderbrechen war. Heute ist sie die am besten funktionierende integrierte Bahn Europas.»
Unzufrieden mit dem Tarifsystem
Meyer übt aber auch Selbstkritik. Unzufrieden sei er mit der Vereinfachung des Tarifsystems. «Da sind wir in der Branche nicht so schnell vorangekommen, wie gewünscht. Deshalb kümmert sich künftig Jeannine Pilloud um diese extrem wichtigen Themen.»
Eine prägende Erfahrung war für Meyer der Streik im Industriewerk Bellinzona, mit dem er in seinem zweiten Jahr als SBB-Chef konfrontiert war. So etwas würde er inzwischen anders handhaben: «Heute würde ich von Anfang an stärker das Gespräch suchen, mit allen Beteiligten.» Es sei ein Fehler gewesen, mit fertigen Lösungsvorschlägen ins Tessin zu reisen. «Es war meine schwierigste Phase als SBB-Chef. Im Nachhinein fragte ich mich, wie ich mich damals im Sattel halten konnte.»
Heute sind sich die Schweizer Bähnler einig: Meyer ist mächtiger denn je. Auch das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» schrieb: «Nach elf Jahren sitzt Meyer so fest im Sattel wie nie.» Diese Feststellung dürften nicht alle gerne hören. Denjenigen aber, die noch immer Benedikt Weibel nachtrauern, sei gesagt: Auch unter dem «Patron» und der «Person für Projektionen» war längst nicht alles perfekt. Im Sommer 2006, kurz nach Meyers Wahl, stellte der Zürcher «Tages-Anzeiger» dem neuen CEO nicht ohne Grund die Frage: «Die Pünktlichkeit der SBB lässt auf gewissen Strecken zu wünschen übrig. Was haben Sie im Sinn, um hier Abhilfe zu schaffen?»
Dieselbe Frage wird man wohl auch Meyers Nachfolger stellen. Bis es so weit ist, dürfte es aber noch ein Weilchen dauern. Der SBB-Chef hat noch lange nicht genug: «Die neuen Technologien reizen mich. Gemeinsam mit meinem Team und der ganzen SBB bin ich bereit für die nächste Etappe.» Er erhalte zwar ab und zu Jobangebote, momentan könne er sich aber keine bessere Aufgabe vorstellen: «Denkbar ist einzig, dass ich neben meinem Posten als CEO noch das eine oder andere Verwaltungsratsmandat annehmen werde.»Keine Frage: Meyer will den öffentlichen Verkehr in der Schweiz prägen. Auch in Zukunft.