Die chinesische Wirtschaftspresse ist heute voll mit Fotos von Severin Schwan (49). Zusammen mit den Chefs von Novartis, GM, Siemens und einer Reihe weiterer Weltkonzerne gehört der Roche-CEO zum Beraterkreis von Shanghais Bürgermeisters Ying Yong (60). Am Wochenende tagte das Gremium Schwan, gab Ying Tipps, wie China die Forschung in den Spitälern verbessern könne.
Jedes Jahr reist Schwan für das Treffen nach China, denn wer zweimal fehlt, wird nicht mehr eingeladen. «Das machen die Chinesen sehr schlau», schmunzelt Schwan beim Interview mit BLICK auf dem Roche-Campus.
BLICK: Herr Schwan, chinesische Staatskonzerne kaufen reihenweise westliche Firmen, um an deren Know-how zu kommen. Nun will die EU chinesische Übernahmen erschweren. Zu recht?
Severin Schwan: Ich bin skeptisch. Staaten haben ein legitimes Interesse, die eigenen Wertvorstellungen zu schützen. Dazu gehört auch das marktwirtschaftliche System. Aber Übernahmehürden dürfen kein Vorwand sein für Protektionismus. Solange sich eine staatliche Firma an die rechtlichen Vorgaben hält, sehe ich kein grundsätzliches Problem.
China kauft westliche Firmen, erlaubt ausländischen Unternehmen im Gegenzug im eigenen Land aber nur Minderheitsbeteiligungen.
Das geht natürlich nicht. Der Westen muss auf gleiches Recht pochen. Im Pharmabereich haben wir das schon heute.
Der Basler Agrochemiekonzern Syngenta wurde von Chemchina geschluckt. Hätte die Schweiz den Verkauf verhindern sollen?
Nein. Ein Verbot wäre ein verheerendes Signal gewesen. Andere Länder hätten mit Bestimmtheit reagiert. Das wäre zum Nachteil der Schweiz. Schweizer Unternehmen tätigen viele Firmenkäufe im Ausland, auch in China. Es ist entscheidend, dass wir diese Möglichkeit weiterhin haben.
Sie kommen eben von einem Treffen mit dem Bürgermeister von Shanghai. Waren Übernahmen westlicher Firmen ein Thema?
Nein, der Bürgermeister wollte von mir und anderen Wirtschaftsexponenten wissen, was es braucht, damit Shanghai in den Bereichen Wissenschaft, Technologie und Innovation eine führende Rolle einnehmen kann.
Ihr Ratschlag?
China ist stark in der Wissenschaft und verfügt über gute Spitäler. Ein Schwachpunkt ist aber die frühe klinische Forschung. Es fehlt an Spezialwissen und einer effizienten Regulierung. Darauf habe ich den Bürgermeister aufmerksam gemacht.
Hat er reagiert?
Ja – und zwar sofort. Heute morgen war eigentlich ein Höflichkeitsbesuch angesagt. Der Bürgermeister brachte aber 20 seiner Mitarbeiter mit. So konnten wir die Probleme gleich konkret besprechen. Das zeigt, wie China funktioniert. Die Leute sind sehr wissbegierig und haben eine unglaubliche Energie.
Ein Unterschied zu Europa?
Ein enormer. Wir müssen aufpassen, dass uns China nicht überholt. Wenn ich heute mit einem Politiker in Europa spreche, dann sagt er mir als Erstes, die Preise seien zu hoch, und die Pharmaindustrie sei ein Problem. In China ist die Reaktion: «Wunderbar, dass es die Pharmaindustrie gibt. Dadurch können unsere Menschen länger leben.»
Und die Schweiz?
Die Grundhaltung ist positiv. Es geht natürlich immer auch um die Kosten, aber in der Regel findet man gemeinsam pragmatische Lösungen. Ich glaube, man ist sogar ein bisschen stolz auf die Pharma. Und wir sind umgekehrt stolz auf unsere Schweizer Wurzeln.
Roche forscht und produziert in China. Haben Sie keine Angst, dass die Medikamente kopiert werden?
Es kursieren hier falsche Vorstellungen. China ist beim Schutz des geistigen Eigentums vorbildlich. Die Regierung hat verstanden, dass es eine innovative Industrie nur geben kann, wenn Patente geschützt werden. Ein Problem sind allerdings Fälschungen. Das wird aber rigoros angegangen.
Roche macht gut drei Milliarden Franken Umsatz in China. Das ist im Vergleich zu früher zwar viel, angesichts der Grösse des Landes aber bescheiden.
Seit Sommer werden vier unserer innovativen Krebsmedikamente vom Staat vergütet. Dadurch werden die Volumen stark steigen.
Solche Therapien kosten Zehntausende von Franken jährlich. Kann sich China das leisten?
Nehmen Sie zum Beispiel Herceptin, ein lebensrettendes Brustkrebsmedikament. Das verkaufen wir hier in China um die Hälfte günstiger als in Europa. Die reichen Länder haben verstanden, dass die Preise in ärmeren Ländern tiefer sein müssen, damit die Patienten Zugang zu den Medikamenten haben. Vor fünf Jahren wurden nur zwei Prozent der Patientinnen in China mit Herceptin behandelt. Heute sind es 45 Prozent, bald werden es alle sein.
Die Behandlung von Krebs steht in einem Umbruch. Novartis hat für die neuartige Car-T–Zelltherapie die Marktzulassung erhalten. Ärgert es Sie, dass Novartis schneller war?
Nein. Wir setzen bei Roche auf andere technologische Ansätze. Es ist gut, wenn die Patienten verschiedene Optionen haben. Was sich in der Immunonkologie abspielt, ist eine Revolution. Das Immunsystem wird dafür eingesetzt, Krebszellen zu zerstören. Bis vor Kurzem ging man davon aus, dass eine Heilung von Krebs nur möglich ist, wenn sich keine Metastasen gebildet haben. Mit den neuen Immuntherapien sehen wir bei gewissen Krebsarten und Patientengruppen eine Heilung trotz Metastasen. Das ist fantastisch! Roche hat mit Tecentriq bereits ein erstes Medikament aus der Immunonkologie auf dem Markt.
Dennoch: Andere waren schneller. Ist Roche träge geworden?
Man muss extrem aufpassen, dass man agil bleibt. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir unsere Spitzenposition halten können. Wir haben viele der besten Wissenschaftler der Welt bei uns im Haus. Und wir haben eine der besten Pipelines an neuen Wirkstoffen.
Die heutige Spitzenposition verdankt Roche der kalifornischen Tochterfirma Genentech. Ist sie noch immer der Innovationsmotor?
San Francisco ist sehr wichtig für uns, aber auch Basel hat in jüngster Zeit grosse Erfolge verbucht, auch Schlieren, wo ein wichtiges Medikament gegen Blutkrebs entwickelt wurde. Der dritte wichtige Standort ist Tokio, wo wir ebenfalls grosse Erfolge erzielen. Diese Vielfalt ist ein grosser Vorteil für uns.
Zur Politik: Nächstes Jahr stimmen wir in der Schweiz über die Konzernverantwortungs-Initiative ab. Sie verlangt, dass Schweizer Unternehmen auch im Ausland und bei ihren Zulieferern Schweizer Recht einhalten müssen. Das hört sich sympathisch an.
Das mag sein, aus zwei Gründen bin ich aber trotzdem dagegen. Die Initiative zwingt die Unternehmen dazu, gewisse Standards unabhängig von lokalen Gesetzen durchzusetzen. Umgekehrt würde sich die Schweiz so etwas völlig zu Recht nie bieten lassen. Stellen Sie sich vor, die Deutschen würden uns vorschreiben, welche Regeln Schweizer Unternehmen in der Schweiz einzuhalten hätten. Oder Saudi-Arabien würde fordern, Schweizer Lieferanten müssten die Scharia einhalten. Ein Aufschrei ginge durchs Land.
Und der zweite Grund?
Die Initiative kehrt die Beweislast um. Wenn einer Firma ein Vorwurf gemacht wird, muss das Unternehmen beweisen, dass es nichts falsch gemacht hat. Das ist ein eklatanter Verstoss gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Es ist gar keine Frage, dass Unternehmen ihre Verantwortung wahrnehmen und Menschenrechte einhalten müssen. Die Initiative ist aber ein Schuss ins eigene Knie.
Pharmaunternehmen stehen im Verdacht, Menschen in armen Ländern als Versuchskaninchen für klinische Versuch zu missbrauchen.
Das ist kompletter Unsinn. Bei unseren Studien gelten weltweit exakt die gleichen Standards. Sonst dürften wir die Daten gar nicht verwenden bei Zulassungsanträgen. Aber es gibt immer wieder Leute, die solche Geschichten verbreiten.
Sie haben bei Roche als Praktikant angefangen. War es von Anfang an Ihr Ziel, einmal CEO zu werden?
Wenn ich damals jemandem erzählt hätte, dass ich meine ganze Karriere bei Roche verbringen würde, dann hätte ich mich geniert. Das wäre mir peinlich gewesen. Aber ich erhielt immer wieder neue Aufgaben, bevor ich darüber nachdenken konnte. Da bin ich gerne hängengeblieben.
Nicht jeder, der hängenbleibt, wird CEO.
Einen gewissen Ehrgeiz muss man schon mitbringen. Aber man darf nicht verbissen sein. Das wird schnell kontraproduktiv. Man darf eine Karriere nicht zu eng planen. Die Welt ist viel zu stark in Bewegung dafür. Viel wichtiger ist, dass man offen und neugierig bleibt. Die Optionen kommen schon. Man muss aber bereit sein, sie zu packen. Ich sehe immer wieder, dass Leute plötzlich Angst vor der eigenen Courage haben.
Sie wurden mit gut 40 Chef einer der grössten Pharmakonzerne der Welt. Wie hat Sie das verändert?
Ich bilde mir ein, dass ich mich als Person nicht verändert habe. Aber das müssten Sie andere Leute fragen.
Was würde Ihre Frau sagen?
Sie würde sicher sagen, dass ich weniger Zeit habe und mehr auf Reisen bin. Als meine Kinder noch kleiner waren, fragten sie mich, warum ich denn keine Zeit hätte. Schliesslich sei ich ja jetzt der Chef und könnte entscheiden. Aber die Erfahrung ist, dass die Agenda umso mehr fremdbestimmt ist, je mehr Verantwortung man in einem Unternehmen hat.
Sie haben als CEO die Autonomie über Ihre Zeit verloren?
Hundertprozentig. Das ist zwar paradox, aber es ist so.
Was tun Sie dagegen?
Indem ich meine Urlaube mindestens zwei Jahre im Voraus plane. Ich versuche auch, die Wochenenden frei zu halten. Wenn ich nicht gerade in Shanghai bin, gelingt mir das manchmal sogar.
Severin Schwan (49) stieg 1993 direkt nach dem Studium als Trainee in der Finanzabteilung von Roche ein. Beim Basler Pharmakonzern legte der Südtiroler eine steile Karriere hin: Er war Finanzchef der Roche-Niederlassungen in Brüssel und Deutschland, ging nach Singapur und wurde Chef der weltweiten Diagnostiksparte. 2008 die Überraschung: Der Verwaltungsrat kürte ihn zum Nachfolger von Franz Humer (71) als Konzernchef. Schwan ist Mitglied eines Beratergremiums des Bürgermeisters von Shanghai und Verwaltungsrat der Credit Suisse. Schwan ist verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt in Basel. In der Freizeit wandert er gern oder liest ein Buch.
Severin Schwan (49) stieg 1993 direkt nach dem Studium als Trainee in der Finanzabteilung von Roche ein. Beim Basler Pharmakonzern legte der Südtiroler eine steile Karriere hin: Er war Finanzchef der Roche-Niederlassungen in Brüssel und Deutschland, ging nach Singapur und wurde Chef der weltweiten Diagnostiksparte. 2008 die Überraschung: Der Verwaltungsrat kürte ihn zum Nachfolger von Franz Humer (71) als Konzernchef. Schwan ist Mitglied eines Beratergremiums des Bürgermeisters von Shanghai und Verwaltungsrat der Credit Suisse. Schwan ist verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt in Basel. In der Freizeit wandert er gern oder liest ein Buch.