Zwei unversöhnliche Lager stehen sich gegenüber. Liberale EU-Leader unter der Führung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (65) kämpfen für offene Grenzen und Freihandel. Auf der Gegenseite verbarrikadieren sich Protektionisten wie der US-Präsident Donald Trump (73) gegen Waren und Menschen. Der Zuspruch für sie wächst, die Unterstützung für die freiheitlichen EU-Leader schrumpft. Warum?
Immer schneller bewegen sich Menschen, Waren und Kapital über den Globus. Den letzten Schub erhielt dieser Prozess der Vernetzung der Welt 1990, nach dem Zerfall der Sowjetunion. Globalisierungseuphorie machte sich breit. Neoliberales Denken war das Mantra der Politik: Der Markt sollte sich selbst regulieren, der Staat sich aus der Wirtschaft heraushalten.
An dieser Haltung änderte zwar auch die weltweite Finanzkrise von 2008 nichts. Doch in der Bevölkerung verflog der Enthusiasmus, zumal die Rettung von Banken und Staaten Milliarden von Steuergeldern verschlang. Hinzu kam ein neues Phänomen: «Auch in den Reihen der eigentlichen Gewinner, den westlichen Ländern, gab es immer mehr Verlierer», sagt Tobias Straumann (53) von der Universität Zürich. Der Wirtschaftshistoriker verweist auf die amerikanischen Industriearbeiter: Zehntausende von ihnen verloren in den letzten Jahren ihre Jobs. Als weiteres Problem entpuppte sich in den USA die illegale Immigration von Billigarbeitern aus Lateinamerika, die den Lohn drücken, sagt Straumann.
Auch in Grossbritannien sei die Immigrationsfrage zu einem politischen Spaltpilz geworden, die Politik habe keine Lösungen angeboten: «Der Brexit und die Wahl von Boris Johnson sind eine Reaktion auf das Politikversagen», sagt Straumann.
Versagen auf der ganzen Linie werfen Populisten in ganz Europa den EU-Leadern vor. Sie sehen in Kanzlerin Merkel, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron (41) und dem scheidenden EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (64) die gescheiterten Vertreter eines globalisierungseuphorischen Establishments.
Der Reflex ist überall derselbe: Abschottung
Die französische Rassemblement-National-Chefin Marine Le Pen (51) attackiert Macron als «Präsident der Reichen», fordert die Abschaffung der EU-Kommission und die Wiedereinführung der Grenzen. In Deutschland will AfD-Parteichef Alexander Gauland (78) das Land mit einem «Dexit» aus der EU führen. Italiens Innenminister Matteo Salvini (46) weist rigoros Flüchtlingsboote von den Küsten ab und ködert seine Wähler mit Anti-EU-Propaganda: «Denkt ihr, dass ich mich an die Regeln aus Brüssel halte?» Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban (56) liess während der Flüchtlingskrise 2015 einen Grenzzaun errichten – und schickte die Rechnung nach Brüssel.
Ob in den USA, Grossbritannien, Ungarn oder Italien – der Reflex ist überall derselbe: Abschottung. Grenzzäune werden errichtet und Flüchtlingsboote gestoppt, Zölle erhoben und Handelsschranken installiert. Solche Gesten, die scheinbar den Nationalstaat verteidigen, kommen an. «Populisten präsentieren einfache Lösungen für komplexe Probleme», sagt Lena Schaffer (39), Politologin an der Uni Luzern. «Die Globalisierung ist komplex – der Bau von Mauern ist einfach.»
Dass Freihandel und Migration bekämpft werden, ist kein Zufall. «Die Interaktion wird umso schwieriger, je unähnlicher sich die Menschen sind», sagt Ralph Ossa (41), Handelsökonom an der Uni Zürich. «Das betrifft den Handel genauso wie die Migration.» Die Osterweiterung der EU sei dafür ein Beispiel. «Sie hat zu einschneidenden Verwerfungen geführt.» Noch folgenreicher sei der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001 gewesen.
Auf allen Kontinenten scheint der Protektionismus auf dem Vormarsch
Der Zürcher Wirtschaftshistoriker Straumann sagt es deutlich: «Der WTO-Beitritt Chinas war ein Schock. Ob er wirklich eine gute Idee war, ist eine offene Frage.» Deshalb würden viele Trumps rüden Umgang mit China begrüssen. «Ein bisschen Protektionismus schadet nicht.» Auch die EU verhalte sich so: «In gewissen Bereichen wie dem Dienstleistungsbereich ist sie noch nicht einmal ein Binnenmarkt. So können Versicherungen ihre Produkte kaum über Ländergrenzen hinaus anbieten.» Sogar die Globalisierungsweltmeisterin Schweiz praktiziere Protektionismus. Das gelte besonders für den Agrarsektor, aber auch in der Industrie. «Dort erschwert man den Markteintritt von ausländischen Konkurrenten mit speziellen technischen Auflagen.»
Auf allen Kontinenten scheint der Protektionismus auf dem Vormarsch. Mit einer Ausnahme: Fast unbemerkt vom Rest der Welt haben vor einem Monat 54 Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union ein Freihandelsabkommen geschlossen. Ein historischer Schritt: Afrika wird die grösste Freihandelszone der Welt.
Ausgerechnet Afrika. Der Kontinent gilt als der Globalisierungsverlierer schlechthin: vom Westen geplündert, von einheimischen Militärdiktatoren unterdrückt. Jetzt setzen die afrikanischen Länder auf Freihandel und Kooperation – ein starkes Zeichen in Zeiten globaler Abschottung und Konfrontation.