Das Programm ist dicht gedrängt an den zwei Sommertagen. Frühmorgens rein in den Car, zwei Stunden fahren, raus aus dem Car, Betriebe besichtigen, Berufsschulen besuchen und abends todmüde ins Bett fallen. Trotzdem sind die Frauen und Männer der albanischen Delegation topmotiviert, als sie durch die Hallen der Lantal Textiles AG in Melchnau BE spazieren. Hier in der Textilfabrik, die 17 Lehrlinge ausbildet, wollen sie sich ansehen, wie das Schweizer Berufsbildungssystem funktioniert. Sie wollen lernen. Denn in Albanien ist jeder dritte Jugendliche arbeitslos. Die meisten haben nur ein Ziel: weg von da. «Mit der Berufslehre können wir ihnen eine Perspektive bieten», sagt die albanische Berufsschuldirektorin Jasmina Lumanaj auf dem Rundgang. Sie hat den ersten Schritt dafür gemacht. Ihre Schule unterrichtet Jugendliche, die im Rahmen des Projekts «Skills for Job» vom Hilfswerk Swisscontact eine Lehre machen. Nach Schweizer Vorbild natürlich.
Wir sind furchtbar stolz auf unser System und rühmen uns gern auch gleich selbst dafür. «Ich denke, dass wir eines der besten Ausbildungssysteme der Welt haben», sagte Bundesrat Johann Schneider-Ammann kürzlich am dritten Berufsbildungskongress. Das Eigenlob vor Bildungsministern der ganzen Welt ist kein Zufall. Die duale Berufsbildung ist ein Imageträger für die Schweiz. Einer, den wir gut und gern pflegen.
Angst, den Anschluss zu verlieren
40 Bildungsdelegationen pro Jahr empfängt allein der Bund. Jedes Jahr werden es mehr. Der Aufwand zahlt sich offenbar aus: Letztes Jahr twitterte die US-Präsidententochter Ivanka Trump (35) nach einem Meeting mit Schneider-Ammann begeistert, wie grossartig es gewesen sei, mehr über die Schweizer Berufslehre zu erfahren. Und kommt das Ausland nicht zu uns, gehen wir zu ihm. Nach Albanien zum Beispiel. Finanziert werden Projekte wie jenes von Swisscontact von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Ihr Budget für den Export der «Stifti» wird immer grösser: In den letzten vier Jahren hat es sich verdoppelt – auf 72 Millionen. Hinzu kommen weitere 20 vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).
All das geschieht nicht aus reiner Nächstenliebe. Unsere Berufslehre kommt immer mehr unter Druck – wegen der Akademisierung in der immer globaler werdenden Welt. Und wir haben Angst, abgehängt zu werden. Unsere Abschlüsse gelten im Ausland wenig. Fast überall um uns herum ist die Berufsausbildung verpönt, das Gymi und die Uni der einzige Weg, um die Eltern happy zu machen. Das zeigt schon ein Blick nach Deutschland, Österreich und Liechtenstein, die ein ähnliches Berufsbildungssystem haben. Selbst sie weisen Maturaquoten von bis zu 40 Prozent auf. Bei uns sind es 21 – wir sind die Ausnahme.
In den westlichen Industrieländern gehen im Schnitt zwei Drittel der Jugendlichen ans Gymi. Deshalb müssen wir immer wieder mal Prügel von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einstecken. Zwar lobt sie unsere Berufsbildung und die geringe Jugendarbeitslosigkeit, doch findet sie, dass die Lehre mehr «akademische Inhalte» braucht. Und sie kritisiert, dass wir gemessen an den Fähigkeiten unserer Jugendlichen zu wenige Akademiker ausbilden.
Auch in der Schweiz wird Kritik laut. Die liberale Denkfabrik Avenir Suisse fordert immer wieder mal eine Reform der Stifti: mehr Naturwissenschaft, Informatik und Fremdsprachen. Die Stossrichtung: Auch ein Maurer muss Englisch können, will er auf dem Arbeitsmarkt in Zukunft mithalten können.
Antonio Loprieno, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz, sagt: «Die Lehre ist sehr stark auf die Vorbereitung auf einen Beruf ausgerichtet, während sich die Welt in Richtung berufli cher Flexibilität entwickelt.»
Also in Richtung raschen technologischen Wandels, Digitalisierung und Wissensgesellschaft. «Wollen wir mithalten, brauchen wir mehr Akademiker. Und dafür sind die Hochschulen zuständig.» Sein Vorschlag: Die Maturaquote soll auf 30 Prozent hochgeschraubt werden.
Dass heute mehr Wissen, mehr Kompetenz gefragt sind, ist bei den Lehrlingen längst angekommen. «Die Anforderungen an sie ändern sich ständig», sagt der renommierte Bildungsforscher Stefan Wolter. Das zeigen allein die Berufsbezeichnungen. Der Automechaniker ist mittlerweile ein Automobilmechatroniker. Heute kriecht der Lehrling seltener unters Auto, vielmehr muss er lernen, wie er mit dem Elektrischen umgeht. Er muss Daten lesen können, die der Computer nach einem Scan des Fahrzeugs ausspuckt. Und kann er das alles, muss er sich rasch um eine Weiterbildung kümmern. «Eine Lehre allein reicht heute nicht mehr», sagt Wolter. «Man muss aktiv bleiben und sich weiterbilden, sonst steigt die Gefahr von längeren Phasen der Arbeitslosigkeit.» Wegen des technologischen Wandels. Einfache und repetitive Arbeiten werden entweder ins Ausland verlagert oder durch Maschinen ersetzt, so Wolter.
Gewerkschaftsbund hält dagegen
Christine Davatz vom Schweizerischen Gewerbeverband (sgv) wundern die Angriffe aus dem In- und Ausland nicht. Sie kennt die Argumente, seit 32 Jahren hat sie das Dossier Berufsbildung unter sich. «Eine Erhöhung der Maturaquote ist falsch», sagt sie. Weil man so Jugendliche entgegen ihren Neigungen und Eignungen ins Gymi zwängt. So, wie es heute schon viele Eltern versuchen. «Dann gäbe es noch mehr Gymi-Abbrecher.» Heute sind es rund 30 Prozent. Sie verweist deshalb auf die Berufsmatur. Zusammen mit der gymnasialen Matur komme die Schweiz ohnehin auf eine Quote von fast 40 Prozent.
Eine Anpassung kommt für Davatz also nicht in Frage, vielmehr müsse der Bund in die Offensive gehen: «Wir müssen dafür sorgen, dass die höhere Berufsbildung als Karriereweg bekannter und unsere Abschlüsse auch international anerkannt werden.» Die Absolventen von Weiterbildungen sollen entsprechende Titel wie Berufs-Bachelor, Bachelor HF oder Professional Master bekommen. Dafür braucht es ein Gesetz und einen Bundesrat, der mitzieht. Doch der will nicht. Zwei Motionen zum Thema schmetterte er schon ab.
Die Jugendlichen selbst scheinen sich von der Debatte nicht beeindrucken zu lassen. Schweizweit machen zwei Drittel eine Lehre, im Kanton Bern sogar die Hälfte. Sie alle haben die Chance, der nächste Oswald Grübel zu werden, der eine Banklehre machte und später die UBS führte. Oder die nächste Anja Zeidler, die als Fitness-Bloggerin und Model heute ihre Fähigkeiten aus der Coiffeuse-Lehre gut gebrauchen kann. Oder, oder, oder.
Vier Lehrlinge im Porträt
Laura Haller (16)
Fachfrau Gesundheit (FaGe), zweites Lehrjahr am Kantonsspital Aarau
Warum haben Sie sich für den Beruf entschieden?
Für mich war immer klar, dass ich einen sozialen Beruf lernen möchte. Ich mag Menschen und helfe auch gern. Deshalb habe ich im Kantonsspital Aarau eine FaGe-Schnupperlehre gemacht. Danach wollte ich gar nichts anderes mehr machen.
Was gefällt Ihnen an der Lehre?
Ich arbeite in der Neonatologie. Dort werden Frühgeborene und kranke Neugeborene behandelt. Diese darf ich in den ersten Tagen auf der Welt begleiten. Es freut mich sehr zu sehen, wie sie jeden Tag Fortschritte machen. Viel lerne ich auch von den Eltern. Sie machen einiges durch, und manche bleiben trotzdem hoffnungsvoll. Diese Einstellung versuche ich für mein Leben mitzunehmen.
Was macht manchmal Bauchweh?
Wenn ich Eltern schlechte Nachrichten überbringen muss, ist das eine Herausforderung. Zum Beispiel dann, wenn sich der Zustand des Kindes verschlechtert. Das sehe ich aber nicht als Nachteil, eher als Lehre fürs Leben. So übe ich, mit schwierigen Situationen umzugehen.
Wo sehen Sie sich in Zukunft?
Ich will im Gesundheitswesen bleiben. Nach der Lehre möchte ich mich zur diplomierten Pflegefachfrau ausbilden lassen. Im Gesundheitsbereich gibt es viele Möglichkeiten, das gefällt mir.
Jason Benz (19)
Abschluss in Informatik mit Fachrichtung Applikationsentwicklung bei Egeli Informatik
Warum haben Sie sich für den Beruf entschieden?
Zuerst konnte ich mir auch einen handwerklichen Beruf vorstellen. Während der Schnupperzeit als Polymechaniker merkte ich aber schnell, dass mir das nicht liegt. Die Schnupperwoche als Mediamatiker gefiel mir besser. Da gestaltet man unter anderem Webseiten, wofür man Informatiktools braucht. Danach wusste ich: Ich muss in die Informatik.
Was gefällt Ihnen an der Lehre?
Beim Informatiker denken viele an den Nerd, der Tag und Nacht vor dem Computer sitzt. Das ist falsch. Wenn ich einen Auftrag für eine Applikation bekomme, muss ich ein Konzept mit eigenen Ideen machen, das im Team besprechen, das Konzept anpassen, wieder im Team besprechen, und erst dann gehts ans Programmieren. Zum Schluss muss ich es meinem Vorgesetzten oder dem Kunden direkt präsentieren. Diese Abwechslung gefällt mir sehr.
Was macht manchmal Bauchweh?
Ich musste früh lernen, wie ich mich Kunden gegenüber verhalte. Wenn ich einem sage, dass wir eine Verzögerung haben, weil wir noch einen Fehler beheben müssen, vermittelt das ein ungutes Gefühl. Ich musste richtig kommunizieren lernen.
Wo sehen Sie sich in Zukunft?
Da ich lehrbegleitend die Berufsmatur gemacht habe, kann ich mir gut vorstellen, bald noch Informatik an der Fachhochschule zu studieren. Ich werde sicher noch eine Weile in der Softwareentwicklung bleiben.
Sabrina Gisler (18)
Malerin, zweites Lehrjahr bei Bachmann AG
Warum haben Sie sich für den Beruf entschieden?
Mich faszinierte die Kombination von Handwerklichem und Kreativem. Wenn man also die Fenster schleifen oder Wände renovieren kann und damit gleichzeitig dem Raum eine neue Wirkung verleiht. Ob die Tür weiss oder grün ist oder die Wände gelb gestrichen oder tapeziert sind, macht einen Unterschied. Wir nehmen einen Raum je nachdem ganz anders wahr.
Was gefällt Ihnen an der Lehre?
Ich schätze es, dass ich am Abend sehe, was ich alles gemacht habe. Man hat immer ein Resultat. Das war früher in der Schule nicht so. Zudem kann ich jetzt mehr Verantwortung übernehmen. Mittlerweile bin ich ab und zu allein für die Malerarbeit auf einer Baustelle oder bei einem Kunden zu Hause zuständig.
Was macht manchmal Bauchweh?
Sorgen macht mir eigentlich nichts. Aber es ist schon manchmal schwierig, das, was ich theoretisch in der Berufsschule lerne, im Betrieb in die Praxis umzusetzen. Das zeigt sich, wenn ich mit Kollegen zusammenarbeite, die schon lange in diesem Beruf tätig sind. Ich lerne viele Dinge anders, als sie es noch von früher her kennen.
Wo sehen Sie sich in Zukunft?
Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich kann mir vorstellen, nach der Lehre auf dem Beruf zu bleiben. Vielleicht mache ich einen Weiterbildungskurs, den die Berufsschule anbietet. Vielleicht spezialisiere ich mich auf Renovationen.
Felix da Silva (24)
Abschluss in Automobilmechatronik bei Amag Bern
Warum haben Sie sich für den Beruf entschieden?
Autos haben mich schon als Kind fasziniert. Und dass ich handwerklich begabt bin, zeigte sich auch schon früh. Ich half meinem Vater gern beim Hausbau in Portugal. Trotzdem machte ich eine kaufmännische Lehre. Ich dachte damals, dass ich damit bessere Chancen haben würde. Der Wunsch einer Autolehre blieb aber, und so machte ich eine zweite Lehre. Ich bereue meinen Weg nicht.
Was gefällt Ihnen an der Lehre?
Heute geht es nicht mehr nur um die Mechanik. Man muss sich vertieft mit Elektronik auseinandersetzen. Diese Vielfältigkeit ist spannend. Und natürlich finde ich es toll, ein Auto auseinanderzunehmen. Ich lerne viel, wenn ich selbst erforschen kann, wie zum Beispiel ein Getriebe funktioniert. In der Berufsschule lernt man das ja nur in der Theorie.
Was macht manchmal Bauchweh?
Ich hatte nie Chemie und Physik in der Schule, daher hatte ich viel aufzuholen. Auch die Fahrzeugelektronik machte mir teilweise Mühe. Ich musste richtig büffeln, um die Gesetze der Ströme und Spannungen zu verstehen. Vieles hat mir zum Glück mein Lehrmeister erklärt. Ich muss sagen: Von meinen zwei Ausbildungen war diese hier anspruchsvoller.
Wo sehen Sie sich in Zukunft?
Erst mal arbeite ich jetzt auf dem Beruf. Ich kann mir vorstellen, später in den Automobilverkauf zu wechseln. Vielleicht mache ich aber auch eine Weiterbildung zum Fahrzeugrestaurator, mit der ich Oldtimer reparieren und restaurieren kann.