Pille ausgeschlagen – jetzt ists ein Mega-Business
Der Milliarden-Fehler von Roche

Der Basler Pharmariese hatte die Chance, als Erster eine Abnehmpille zu entwickeln – und überliess Eli Lilly das Feld. Die Geschichte zum Milliarden-Fehler und die Hintergründe.
Publiziert: 15.08.2024 um 18:57 Uhr
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2018 hatte Roche die Chance, ins Abnehmgeschäft einzusteigen.
Foto: Keystone
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Holger Alich
Handelszeitung

Der Pharmariese Roche hatte die Möglichkeit, als Erster eine Pille für Gewichtsverlust zu entwickeln – und liess sie sausen. Im Jahr 2018 verfügte das Unternehmen über das Recht, vom japanischen Pharmahersteller Chugai, der mehrheitlich den Baslern gehört, den Wirkstoffkandidaten Owl 833 zu erwerben und zu entwickeln. 

Das Diabetesmittel hätte nur einen zweistelligen Millionenbetrag gekostet, denn es war in einer frühen Entwicklungsphase und stand vor der ersten klinischen Erprobung. Das Mittel hat das Potenzial, als täglich einzunehmende Pille gegen Übergewicht eingesetzt zu werden. Doch Roche schlug nicht zu, stattdessen kaufte Eli Lilly den Wirkstoffkandidaten für 50 Millionen Dollar. Das berichtet die «Financial Times» mit Verweis auf Unternehmensunterlagen sowie auf Gespräche mit Insidern. 

Dem Arzneimittel wird ein Jahresumsatz von 14 Milliarden Dollar zugetraut

Das «Orfoglipron» getaufte Mittel zählt heute zu den aussichtsreichen Wirkstoffkandidaten von Eli Lilly. Der Konzern hatte im Juni Studienergebnisse aus der Phase-zwei-Entwicklung des Wirkstoffs bekannt gegeben, und demnach haben die Studienteilnehmenden in der 36-wöchigen Testphase im Schnitt 14,7 Prozent ihres Gewichts verloren. 

Artikel aus der «Handelszeitung»

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Orfoglipron soll nun im Jahr 2026 auf den Markt kommen. Analysten und Analystinnen schätzen den möglichen Jahresumsatz – sollte der Wirkstoff die Zulassung schaffen – auf bis zu 14 Milliarden Dollar im Jahr. 

Abnehmmedikamente sind derzeit der heisseste Markt im Pharmageschäft; gemäss Analystinnen und Analysten dürfte sich hier der Jahresumsatz bis 2030 auf rund 100 Milliarden Dollar belaufen. Dank seiner milliardenschweren Abnehmspritzen Wegovy und Ozempic ist der skandinavische Pharmahersteller Novo Nordisk zum wertvollsten Konzern Europas geworden.

Der Erfolg dieser Medikamente beruht auf bestimmten Darmhormonen, welche die Bildung von Insulin bei der Nahrungsaufnahme bedarfsabhängig regulieren und daher eigentlich für Diabetespatienten und -patientinnen entwickelt worden sind. Doch die sogenannten Inkretine fördern auch das Sättigungsgefühl: Wer das Mittel zu sich nimmt, isst weniger – und nimmt ab.

Wie Roche den Entscheid begründet

Die ersten Spritzen kamen 2021 auf den Markt. Schon drei Jahre zuvor hätte Roche, wie oben geschildert, selbst ins Rennen um diesen Milliardenmarkt einsteigen können – und hat es unterlassen.

Warum? Roche bestätigt auf Anfrage den Bericht und erklärt den Entscheid von damals so: «Im Jahr 2018 war weder das breitere Anwendungspotenzial von Inkretinen klar, noch waren die wissenschaftlichen Erkenntnisse so weit fortgeschritten wie heute.» 

Seit dem Ablehnungsentscheid von damals habe sich der Markt und der wissenschaftliche Fortschritt deutlich weiterentwickelt, und eine neue Generation von Inkretinen habe sich als wirksame Option zur Behandlung von Übergewicht etabliert, so Roche. 

Im Klartext: Die Expertinnen und Experten von Roche haben damals nicht erkannt, welches Potenzial die Entwicklung ihrer japanischen Partner haben könnte. Dazu meint der Konzern: «Die Forschung und Entwicklung im Gesundheitswesen ist immer mit Risiken, Priorisierung und einer soliden Entscheidungsfindung verbunden.»

Der Entscheid von Roche erscheint im Rückblick besonders bitter. Zwar pumpt der Konzern jedes Jahr zweistellige Milliardenbeträge in seine Forschung und Entwicklung, doch zuletzt hat die hauseigene Medikamentenentwicklung aus Sicht der Börse zu viele Flops produziert. 

Ein Zukauf soll den Konzern zurück ins Spiel bringen

Selbst in seiner einstigen Paradedisziplin, der Entwicklung neuer Krebsmittel, musste Roche jüngst einen weiteren Rückschlag hinnehmen.

Nun rennt Roche im Kampf um Abnehmmittel dem Markt hinterher und hat sich mit einem Zukauf zurück ins Spiel gebracht: Im vergangenen Jahr erwarb der Konzern für 3,1 Milliarden Dollar das Biotech-Unternehmen Carmot, das ebenfalls eine Abnehmpille entwickelt. 

Von dem Wirkstoffkandidaten meldete Roche zuletzt positive Studiendaten, was der Aktie neuen Schub gab. Doch das Mittel dürfte nicht vor 2028 auf den Markt kommen. Und damit wohl zwei Jahre nach Eli Lillys Abnehmpille, deren Wirkstoff ausgerechnet von Roches Partner Chugai entwickelt wurde, der zu 60 Prozent Roche gehört.

Die Ironie der Geschichte: Chugai ist am Erfolg von Orforglipron beteiligt und bekommt laut «Financial Times» Milestone-Zahlungen in der Höhe von bis zu 390 Millionen Dollar, wenn das Mittel bestimmte Entwicklungsstufen mit Erfolg abschliesst. Als grösste Aktionärin von Chugai profitiert Roche damit indirekt. 

Den Milliardenreibach mit der ersten Abnehmpille wird aber voraussichtlich die US-Konkurrenz einfahren. 

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