Passhändler Christian Kälin gibt einen Einblick in seine Welt
«Andere Leute sammeln Uhren oder Autos. Ich sammle Pässe»

Wie der als «Passhändler» bekannte Unternehmer Christian Kälin seine ambitionierten Projekte vorantreibt.
Publiziert: 06.01.2025 um 16:01 Uhr
|
Aktualisiert: 06.01.2025 um 16:24 Uhr
1/2
Christian Kälin vermittelt Pässe.
Foto: Danial Hakim für BILANZ

Auf einen Blick

Die Zusammenfassung von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast.
bil_stehsatz_redaktionsmitarbeiter_erich_buergler_ba_14rgler.jpg
Erich Bürgler
Bilanz

Christian Kälin wollte eigentlich zu einer Grossbank. Als junger Mann bewarb er sich um eine Lehrstelle sowohl bei der UBS als auch bei der CS, die damals noch SKA hiess – ohne Erfolg. «Ich bin bei beiden Aufnahmeprüfungen durchgefallen», erzählt der 53-Jährige. Heute denkt Kälin dafür gross. Der Unternehmer will eine Stadt für arbeitswillige Flüchtlinge bauen, hilft als Chairman von Henley & Partners Regierungen dabei, Reiche als Staatsbürger zu gewinnen, besorgt einer vermögenden Klientel einen zweiten Reisepass und arbeitet an einem Buch über die Missstände im Gesundheitswesen vieler Länder.

Gleichzeitig beschäftigen den in Uitikon am Zürcher Uetliberg aufgewachsenen Kälin auch Angelegenheiten von scheinbar geringerer Tragweite: etwa die Schliessung des Zürcher Restaurants Schlauch. «Das war für mich eine mittlere Katastrophe.» Das schlichte Gasthaus in der Altstadt setzte ausschliesslich auf frische Zutaten in Bioqualität. Bei seinen Aufenthalten in der Schweiz standen die Businessmeetings im Schlauch deshalb fix auf der Agenda.

Kälin achtet auf seine Ernährung, auch wenn er – wie so oft – unterwegs ist. In Singapur fand jüngst der wichtigste jährliche Anlass von Henley & Partners statt: die 18. Global Citizenship Conference. Während des Businesslunchs mit dem Präsidenten des pazifischen Inselstaates Nauru und dessen Delegation bestellte Kälin nicht von der Karte, sondern flüsterte dem Kellner seine Bestellung ins Ohr. Später kam ein Teller mit Kichererbsen und Broccoli auf den Tisch. Ein Kontrast zu seinem Sitznachbarn: Ein Vizeminister Naurus hatte ein Ein-Kilo-T-Bone-Steak bestellt.

Goldende Visa: Die Vermittlung von Aufenthaltsbewilligungen im Austausch gegen Investitionen bildet das Kerngeschäft von Henley & Partners.
Foto: ZVG

Passverkäufe sanieren den Staat

Nauru ist das jüngste Henley-Baby. Zu Beginn war Präsident David Adeang skeptisch, als die Henley-Verantwortlichen die Regierung über ein Passprogramm kontaktierte. Er habe um die Reputation des Landes mit gerade mal 12'000 Einwohnern gefürchtet, erzählt er. Christian Kälin und Henley-CEO Juerg Steffen mussten den Präsidenten in persönlichen Gesprächen erst davon überzeugen, dass ihre Due Diligence Bewerberinnen und Bewerber für eine Staatsbürgerschaft des Landes sorgfältig durchleuchtet. Nur wer über einen einwandfreien Leumund verfüge, komme in Frage, verspricht Henley. 

Und eine weitere wichtige Voraussetzung: Rund 140'000 Dollar als Einzelperson werden inklusive Gebühren fällig. Im Vergleich mit anderen Zweitpässen ist das fast schon ein Schnäppchen. Oft sind deutlich höhere Investitionen in Immobilien oder andere Projekte Voraussetzung für die zusätzliche Staatsbürgerschaft. Nauru kann das Geld gut gebrauchen: Trotz Palmenstränden gibt es auf der Insel kaum eine touristische Infrastruktur, und die Phosphatminen haben als Devisenbringer praktisch ausgedient. Das Citizenship-Programm soll helfen, die Staatsfinanzen zu sanieren und so Investitionen in dringend notwendige Massnahmen gegen die Folgen der Klimaerwärmung zu ermöglichen.

Nauru ist nur eines von zahlreichen Programmen, die Henley & Partners zusammen mit Regierungen aufgesetzt hat. Neben dem Erwerb von Staatsbürgerschaften geht es vor allem auch um «Goldene Visa» – Aufenthaltsbewilligung im Gegenzug für Investments. Das macht den Grossteil des Henley-Geschäfts aus. Das Angebot reicht von Karibikinseln bis Österreich. Henley berät die vermögende, an Zweitpässen interessierte Kundschaft, welches Programm am besten zu ihren Bedürfnissen passt.

Passhandel als Schutz vor Klimawandel: Die Pazifikinsel Nauru will sich mit neuen Einnahmen gegen die Folgen der globalen Erwärmung wappnen.
Foto: Getty Images

Mehr als 60 Niederlassungen hat das Unternehmen mittlerweile weltweit. Jüngst hat die Wahl Donald Trumps viele US-Amerikaner dazu bewogen, sich nach einem zweiten Pass umzuschauen. «Das wäre auch bei der Wahl von Kamala Harris passiert», kommentiert Kälin, der Anfang der neunziger Jahre als Berater bei Henley eingestiegen war und das Unternehmen als Partner und Miteigentümer zu dem gemacht hat, was es heute ist. Die zunehmende politische Polarisierung treibt das Geschäft an – auch in Europa. «Viele vermögende Deutsche wollen einen zweiten Pass als Plan B.» Sie äussern ihre Besorgnis über den Aufstieg der politischen Rechten und die wachsende Neidkultur. 

Auch Schweizerinnen und Schweizer klopfen zunehmend bei Henley & Partners an. «Das ist wie eine Versicherung. Wenn der Krieg in der Ukraine eskalieren würde, hätte man die Möglichkeit, in einem anderen Land weit weg von Europa zu leben», sagt Kälin. Vermeintlich vorteilhafte Pässe können zudem plötzlich zum Nachteil werden. So geschehen, als dänische Zeitungen Mohammed-Karikaturen veröffentlichten. Daraufhin kam es in vielen muslimisch geprägten Ländern zu massiven Demonstrationen und zu Angriffen auf dänische Botschaften. Ein dänischer Pass wurde für Reisen in gewisse Länder zum Handicap und persönlichen Sicherheitsrisiko.

Die EU wittert Korruption

Immer mehr wohlhabende Personen, besonders solche, die international tätig sind, sichern solche Risiken mit einem Zweitpass oder einem Zweitwohnsitz ab. Je nach Nationalität bietet dies zudem Vorteile, wie eine visumfreie Einreise oder die Möglichkeit von Arbeitsbewilligungen in Drittstaaten. Kälin spricht von einer «Geburts-Lotterie», wenn es darum geht, welche Staatsbürgerschaft jemand ursprünglich bekommen hat. Der Zufall entscheidet – wobei sich die Vor- und Nachteile einer Nationalität im Laufe der Zeit vollständig ins Gegenteil verkehren können, wie Kälin an einem Beispiel aufzeigt. Wer heute wie er einen Schweizer Pass von Geburt an besitzt, kann sich glücklich schätzen – vor 500 Jahren sah das ganz anders aus: Die Schweiz galt zu dieser Zeit als rückständiger Bauernstaat, den man am besten mied. Das heute in der Krise steckende Mali hingegen erlebte eine Blütezeit, geprägt durch den florierenden Handel mit Gold, und zog Gelehrte aus der ganzen Welt an.

Das Geschäft von Henley boomt. In den letzten zwei Jahren steigerte das Unternehmen den Umsatz um jeweils rund 25 Prozent. Nicht alle freut das. Besonders die EU kritisiert die Programme eigener Mitgliedsstaaten wie Malta und beobachtet Länder wie Grenada, dessen Staatsbürger einen visafreien Zugang zu Schengen haben, mit Argusaugen. Die EU-Kommissäre argumentieren mit angeblichen Risiken wie Geldwäsche oder verweisen auf möglicherweise korrupte Behörden, die gegen Bezahlung Pässe vergeben.

Artikel aus der «Bilanz»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Bilanz» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du unter bilanz.ch.

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Bilanz» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du unter bilanz.ch.

Christian Kälin hält dagegen. Die Gefahr, dass sich Politiker oder Behördenvertreter mit Passvergaben bereichern, sei viel grösser in Ländern, wo es kein detailliertes Programm mit klaren Regeln gebe. Der EU seien die Programme von Henley & Partners grundsätzlich ein Dorn im Auge. «Man kann darüber debattieren, ob es politisch legitim ist, Pässe gegen Geld zu vergeben. Das ist ein philosophischer Diskurs.» Dagegen bringt die Kritik, Geldwäsche zu ermöglichen, Kälin in Rage. «Unsere Due Diligence ist äusserst strikt. Wir prüfen Bewerber für Staatsbürgerschaften genauer als jede Bank ihre Kundschaft.» Missbrauchsfälle vollständig verhindern kann auch das nicht. Derzeit ist Henley mit weiteren EU-Staaten im Gespräch, die daran interessiert sind, Pässe oder Niederlassungsbewilligungen im Gegenzug für Investitionen auszustellen.

Dubai schlägt die Schweiz

Die Reichen dieser Welt sind mobil. Die Schweiz gehört zu den Top Ten der Länder, die 2024 den höchsten Zuzug von Millionären verzeichneten, wie Zahlen von Henley & Partners zeigen. Kälin will aber kein Loblied auf die Schweiz als Standort für Vermögende anstimmen. Das Land stehe im europäischen Vergleich zwar gut da. «Aber auch nur, weil es andere europäische Staaten noch viel schlechter machen.» Die gefühlte Sicherheit in der Schweiz sei zuletzt gesunken. Dazu erzählt er eine Anekdote über seine Tochter, die vor ihrem Studium ein Zwischenjahr in Dubai verbrachte. Dort habe sie sich als junge Frau deutlich sicherer gefühlt als an manchen Orten in der Stadt Zürich. Den Erhebungen zufolge sind die Vereinigten Arabischen Emirate der grösste Magnet für Millionäre, die umziehen möchten. Das Emirat Dubai macht laut Kälin vieles richtig. In der Schweiz gibt es hingegen Entwicklungen, die er nicht nachvollziehen kann – etwa dass jede Person ihr Geschlecht bei den Behörden nach eigenem Ermessen ändern kann.

Das Thema Staatsangehörigkeit beschäftigt Christian Kälin auch in einem weiteren Kontext. So hält der auf Immigrations- und Staatsbürgerschaftsrecht spezialisierte Jurist den Umgang der westlichen Staaten mit Migration für fehlgeleitet. «Heute haben die meisten Länder eine pseudostrenge Einwanderungspolitik. In der Praxis gibt es aber viele illegale Migranten, die dann oft nicht arbeiten dürfen.» Ein Gegenkonzept von Kälin nimmt immer mehr Gestalt an. Es wird so konkret, dass er sich Gedanken darüber macht, seine Rolle bei den zahlreichen Businessaktivitäten grundlegend neu zu organisieren.

Die von ihm 2017 gegründete Andan Foundation will Städte für Flüchtlinge von Grund auf erbauen und damit den Umgang mit der zunehmenden globalen Migrationskrise völlig umkrempeln. «Jede Person, die einen Beitrag leisten will, ist in der Stadt willkommen. Egal ob es eine Putzkraft ist oder ein Ingenieur.» Die Migrantinnen und Migranten müssten sich bewerben und einen Vertrag unterschreiben, in dem sie die Bedingungen für ein Leben in der neuen Stadt akzeptierten. Kälin spricht von Vertragsbürgern und von Nulltoleranz gegenüber kriminellem Verhalten. Wer sich nicht an die Regeln halte, müsse gehen.

Kritiker bemängeln die fehlende Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger einer solchen Stadt. Das System sei undemokratisch. Das Sagen hätten gewinnorientierte Unternehmen. Die Andan Global City sollen Private finanzieren. Anreize wären eine mögliche Wertsteigerung von Investitionen in Immobilien und der Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften.

Neue Wege in Sachen Migration: Kälins Andan Foundation will Städte für Vertriebene bauen. In Jordanien besuchte er ein Flüchtlingscamp.
Foto: ZVG

Kälin sieht in der Flüchtlingsstadt einen Safe Haven. Die Migranten sollen die Chance erhalten, zu arbeiten, zu studieren und sich ein neues Leben aufzubauen. Die Idee stösst bei Experten wie dem langjährigen Präsidenten des IKRK, Peter Maurer, auf Interesse. «Angesichts der Rekordzahl von Vertriebenen und der zunehmenden Herausforderungen im Bereich der Migration sind neue und unvoreingenommene Ansätze dringend erforderlich», kommentiert er das Buch «Free Global Cites» von Kälin und vielen weiteren Autoren, das im März erscheinen wird und das Konzept von Flüchtlingsstädten darlegt. Dies sei nicht nur «eine kühne Vision, sondern auch ein praktischer Plan, der kein Tabu unangetastet und keinen Stein auf dem anderen lässt», so Maurer in seinem Endorsement.

Die Idee zündet allmählich

Gegenüber BILANZ präzisiert Maurer seine Einschätzungen. «Ich stimme nicht in allen Einzelheiten mit Kälin überein. Es ist aber dringend notwendig, die Diskussionen in neue Bahnen zu lenken.» Es fehlten Perspektiven beim Thema Migration. «Wir drehen uns im Kreis und sind in einer Hoffnungslosigkeit gefangen, die durch die bestehenden Normen und Strukturen verursacht wird», sagt er. «Es geht auch um das Recht auf ökonomische Mitbestimmung. Der Markt ist nicht das Problem, sondern der Zugang zum Markt.»

Es braucht die Zustimmung einer Regierung, welche die Gründung einer solchen autonomen Flüchtlingsstadt auf ihrem Staatsgebiet zulässt. Christian Kälin zieht den Vergleich mit Elon Musk, dessen Projekt der wiederverwendbaren Riesenrakete Starship von vielen lange belächelt wurde, zuletzt aber grosse Fortschritte erzielte. Auch die Andan Free Global City galt lange als utopisch – nun rückt die Verwirklichung der Flüchtlingsstadt erstmals in greifbare Nähe. «Mitte Januar finden Verhandlungen mit dem Regierungschef eines Landes statt.» Es sind die ersten konkreten Gespräche auf Topstufe.

Führen sie zum Erfolg, gewänne das Projekt eine völlig neue Dimension und müsste auf eine breitere finanzielle Basis gestellt werden. Denn für Kälin ist klar: Eine solche erste Stadt wäre nur der Prototyp. Viele andere müssten folgen, damit ein signifikanter Beitrag zur Linderung der globalen Migrationskrise geleistet werden könnte. Das ginge mit grossem Aufwand einher und könnte Kälins unternehmerischen Fokus neu definieren – falls der Durchbruch bei den Gesprächen mit Regierungschefs gelingt. «Ich mache mir Gedanken darüber, ob ich in diesem Fall sehr viel Zeit in Andan investiere und alle meine anderen Tätigkeiten inklusive Henley & Partners zurückfahren oder abgeben soll», sagt er. Die Alternative wäre, Andan unter eine neue Leitung zu stellen. Im Verwaltungsrat sitzen namhafte Köpfe wie Michael Møller, ehemaliger Leiter des Genfer UNO-Hauptsitzes. Doch sind Kälins Kontakte mit Regierungen weltweit für Andan wertvoll.

Neuausrichtung: Kälin überlegt sich, einige seiner vielen Businessaktivitäten zurückzufahren oder abzugeben – falls die bevorstehenden Verhandlungen mit dem Regierungschef eines Landes über den Bau einer Flüchtlingsstadt positiv verlaufen.
Foto: Danial Hakim für BILANZ

Ein Ärztefehler prägte ihn

Die «anderen Tätigkeiten» und Interessen Kälins, der zwei Doktortitel in Jura und Philosophie besitzt, sind zahlreich. Ein Thema, das ihn früh gepackt und nie losgelassen hat, ist das Gesundheitswesen. Lange bevor er das System hinterfragen konnte, hatte er medizinische Fehlleistungen am eigenen Leib erfahren. Nach seiner Geburt diagnostizierten Ärzte Probleme mit dem Blutzucker. Er kam als Baby auf die Intensivstation. Zwei Tage später informierten die Verantwortlichen die besorgten Eltern, sie könnten das Kind nach Hause nehmen, es sei alles in Ordnung. Kälins Vater wurde misstrauisch und fragte genauer nach: Warum sollte plötzlich alles wieder gut sein? Es stellte sich heraus, dass im Spital Kälins Blutprobe mit der eines anderen Kindes vertauscht worden war. Diese Erfahrung stimmte Kälin nachdenklich. Was mochte wohl aus dem Kind geworden sein, dessen Blutwerte tatsächlich schlecht waren? Später erlebte er, wie seine an Krebs erkrankte Tante so oft operiert wurde, dass sie schliesslich nicht an ihrer Krankheit, sondern an den Folgen der Eingriffe starb.

«Ich habe früh gelernt, Diagnosen und Aussagen von Ärzten zu hinterfragen», sagt Kälin heute. Konsequenterweise machte er auch gleich ein Business daraus. Er gründete 1997 das SIP Medical Family Office. SIP vermittelt einer global tätigen Klientel internationale Krankenversicherungen und berät sie bei der Wahl von Ärzten und Krankenhäusern rund um den Globus. Eine Grundregel dabei: egal wie gut die Reputation der medizinischen Einrichtung ist, immer eine Zweit- und besser noch eine Drittmeinung einholen. 

SIP-Eigentümer Kälin hat sich zwar schon kurz nach der Gründung aus dem operativen Geschäft zurückgezogen. SIP-CEO ist Kevin Bürchler. Doch mit dem Thema Gesundheitswesen setzt sich Kälin weiterhin intensiv auseinander. Jüngst hat er sich dazu entschieden, gemeinsam mit dem Herzchirurgen Paul Vogt ein Buch zu schreiben. Dessen Arbeitstitel lautet «No Nonsense Medicine». «In vielen Teilen der Welt leidet die Bevölkerung unter einer medizinischen Unterversorgung. In der Schweiz und anderen westlichen Ländern ist das Gegenteil der Fall: Wir sind medizinisch überversorgt», sagt Kälin.

Er kritisiert falsche Anreizsysteme, die unnötige Untersuchungen und Eingriffe zur Folge hätten. «Wer in der Schweiz privat versichert ist, hat ein erhöhtes Risiko, überflüssige Operationen aufgeschwatzt zu bekommen.» Als Beispiel nennt er Stents in der Herzchirurgie. Studien zeigten, dass sie viel zu häufig eingesetzt würden. Eigentlich müsste es laut Kälin zudem Malus-Systeme geben, etwa wenn es in einer Klinik zu vielen Komplikationen bei Operationen komme. Heute verdienten Spitäler mehr daran, als wenn alles reibungslos klappe.

Wenig abgewinnen kann er dem Hype rund um ein anderes Gesundheitsphänomen: Das Schlagwort lautet Longevity. Wenn Unternehmen mit neuartigen Nahrungsmittelzusätzen ein längeres oder gesünderes Leben versprechen, fehle meistens die wissenschaftliche Evidenz. Die Langzeitfolgen seien ungewiss. «Das ist, wie wenn man einem alten Auto einen neuen starken Motor einbaut. Dann macht vielleicht plötzlich das Fahrwerk nicht mehr mit.» Sein Rezept für Longevity ist simpel: ausgewogene Ernährung, genügend Bewegung, wenig Alkohol, viele soziale Kontakte und Stressvermeidung.

Stressvermeidung? An der Konferenz in Singapur reihen sich die Termine Kälins dicht aneinander: Von frühmorgens bis nach 23 Uhr abends trifft er Regierungsvertreter und deren Delegationen. «Viel Arbeit bedeutet nicht Stress, solange man ein ausreichendes Mass an Entscheidungsfreiheit hat», kommentiert Kälin. «Wer bei seiner Arbeit ständig gesagt bekommt, was er zu tun habe, ist hingegen ziemlich sicher gestresst.»

Kein Thema für ihn war es deshalb, nach seinem Jus-Studium für eine Wirtschaftskanzlei zu arbeiten, um fremdbestimmte Deadlines für Mergers & Acquisitions einzuhalten. Zuvor absolvierte er eine Banklehre – statt bei den Grossbanken kam er bei einem kleineren Institut unter. Auf die Matura bereitete er sich danach im Selbststudium vor. So nutzte er unter anderem die Zeit während einer Fahrt auf einem Frachtschiff nach Neuseeland, um einen Berg Bücher abzuarbeiten. Auf der Südhalbkugel lernte er den Schweden Pendo Löfgren kennen. Mit ihm gründete er später die Vermögensverwaltungsfirma Arnova Capital, die den beiden heute noch gehört. Auch Kälins Interesse am Thema Anlageberatung hat eine eigene Geschichte. Sein Vater war Automechaniker und gründete später ein Unternehmen. Sein Vermögen liess er von einer Bank verwalten. Doch das vermehrte sich im Laufe der Zeit nicht, sondern schrumpfte. Kälins Fazit: «Traue keinem Vermögensverwalter blind.»

Eine Schokolade ist immer dabei

Die Anlagestrategie von Löfgren und Kälin ist erfolgreich. Mit Investitionen durch einen selbst entwickelten Algorithmus erzielte Arnova seit 2003 eine durchschnittliche jährliche Rendite im zweistelligen Prozentbereich. Darüber hinaus nutzt Kälin sein breites Netzwerk, um Anlageideen aufzuspüren. Unter anderem setzt Arnova auf Uran und Nukleartechnologie und geht davon aus, dass viele Regierungen die Kernenergie massiv ausbauen werden.

Global Citizen: Kälin lebt heute vor allem in Dubai und London. Für die zahlreichen Treffen mit Regierungsvertretern reist er ständig.
Foto: Danial Hakim für BILANZ

Neben diesen grossen Themen erregen auch kleinere Dinge Kälins Interesse – etwa als er vor einigen Jahren in Zürich einen Bioladen betrat. Er war begeistert von der Schokolade des kleinen Herstellers Naturkostbar, die er dort an einem Promotionsstand des Firmeninhabers Michael Brönnimann probierte. Die beiden tauschten die Kontaktdaten aus. Als es darum ging, die bestehenden Maschinen zu erneuern, investierte Kälin in die Manufaktur. Heute ist er Teilhaber und hat stets eine Tafel Naturkostbar-Schokolade in der Tasche. «Wir produzieren alles selbst und kaufen keine Zwischenprodukte ein», betont er. Zum Sortiment gehören auch Trockenfrüchte, Nüsse und Müslis. Eine Mischung wurde nach dem Gusto von Kälin kreiert. Sie enthält die gesunden wilden Heidelbeeren und schmeckt statt mit Milch auch mit heissem Wasser angerührt – ideal für unterwegs, denn Wasser ist überall erhältlich.

Kälin lebt heute vor allem in Dubai und London. Er, der von der Agentur Bloomberg zum «Passport King» gekürt wurde, hat bislang nie preisgegeben, wie viele Pässe er besitzt. Beim Event in Singapur lüftete er das Geheimnis zumindest teilweise. In einem Vortrag mit dem Titel «Warum Sie unbedingt mehr als einen Reisepass brauchen» erzählte Kälin, wie sein Schweizer Pass nach einem Visumantrag für eine Reise nach Vietnam lange nicht retourniert worden sei. Zum Glück habe er auch einen Pass von St. Kitts und Nevis, mit dem er in der Zwischenzeit habe reisen können. In seiner Rede hielt er noch zahlreiche andere seiner Pässe in unterschiedlichen Farben in die Höhe: aus Neuseeland, Österreich, Irland, Grenada, Malta und der Türkei. Das dürfte allerdings nur eine Auswahl seiner Kollektion sein. «Andere Leute sammeln Uhren oder Autos. Ich sammle Pässe», so Kälin. Wie viele es genau sind, behält er weiterhin für sich.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?
Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.