Simonetta Sommaruga sagte letzte Woche im SonntagsBlick, wenn wir die Energiewende schaffen, meistern wir die Klimakrise auch ohne Verzicht. Können wir wirklich so weiterleben wie bisher?
Irmi Seidl: Nein, können wir nicht. Aber wir verzichten schon heute auf vieles. Auf gute Luft, pestizidfreies Trinkwasser, auf Ruhe und hormonfreies Fleisch. Wieso fragen wir immer als Erstes, worauf wir verzichten müssen? Wir sollten darüber reden, was wir alles gewinnen können.
Gewinnen?
Ja, unsere Gesellschaft könnte von einem Wandel in vielen Bereichen profitieren. Nehmen wir mal das Auto. Ja, wir würden weniger damit fahren. Aber: Das ÖV-System würde ausgebaut, wir hätten weniger Stau. Weniger Land würde durch neue Strassen verbaut, Orte wären für alle lebenswerter mit weniger Lärm und besserer Luft. Und wir wären gesünder, weil wir mehr Bewegung hätten. Auch von einem reduzierten Fleischkonsum würde unsere Gesundheit profitieren. Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt seit Jahrzehnten eine deutlich stärkere pflanzliche Ernährung.
Käse und Fleisch werden sich die Schweizer nicht einfach nehmen lassen. Braucht es Verbote?
Nein. Aber es braucht ein Ende der Direktzahlungen zugunsten von Fleisch und Käse, die zu einer hohen Produktion führen und diese Lebensmittel relativ verbilligen. Das wäre ein einfacher Schritt, wenn die Lobby – von der Landmaschinen- und Chemieindustrie mitgetragen – nicht so stark wäre. Gleichzeitig könnte man die Gemüseproduktion stärker unterstützen.
Nicht alle mögen pflanzliche Gerichte.
Viele wissen einfach noch nicht, wie gut die pflanzliche Küche schmecken kann. Die Kochkunst mit Gemüse, Hülsenfrüchten und Co. ist noch weniger entwickelt als jene mit Fleisch. Es beginnt erst, dass die pflanzliche Küche in der Kochlehre ernst genommen wird. Da können Berufsverbände und Bildungsämter Einfluss nehmen und viel bewegen.
Bundesrätin Sommaruga will aber weder Vorschriften noch Zwang. Werden die Menschen ihr Verhalten freiwillig ändern?
Freiwilligkeit reicht nicht, wenn die Anreize in die falsche Richtung lenken. Oftmals braucht es nur kleine Richtungsänderungen, um Produzenten und Konsumenten von neuen Wegen zu überzeugen.
Massnahmen wie eine Benzinpreiserhöhung stossen bei der Bevölkerung auf Widerstand, das sieht man bei den Gilets jaunes in Frankreich.
Wichtig ist, dass die Erhöhungen voraussehbar sind, stufenweise erfolgen und von sozialen Ausgleichsmechanismen begleitet sind. Ich vermute, in Frankreich hätte der Protest aufgefangen werden können, wäre eine Rückvergütung vorgeschlagen worden. Forschungsergebnisse der ETH zeigen, dass in der Schweiz bei einer Rückerstattung der CO2-Abgabe knapp zwei Drittel der Bevölkerung mehr erhalten würden, als sie an Abgaben geleistet haben – weil sie kleinere Autos und Wohnungen haben, als das restliche Drittel.
Sommaruga geht davon aus, dass wir die Klimakrise mit unserem heutigen Wirtschafts- und Sozialsystem in den Griff bekommen. Was sagen Sie dazu?
Es gibt in unserem heutigen System gewichtige Stellschrauben, um Klima- und Umweltprobleme wirksam zu vermindern. Doch «Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass» ist unrealistisch. Und wir müssen erkennen, dass die Umwelt- und Verteilungsprobleme, an denen die Schweiz ihren Anteil hat, Wirtschaft und Gesellschaft schon heute verändern. Unser aller Aufgabe ist es, die Veränderungsprozesse mitzugestalten.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass wir von der Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum wegkommen müssen.
Ja, denn die Zielsetzung «Wirtschaftswachstum» bremst die Umweltpolitik aus! Es heisst seit 40 Jahren, wir könnten dies und jenes im Umweltbereich nicht machen, weil es dem Wachstum schade. Auch deshalb sind wir in die heutige ökologisch dramatische Situation geraten.
Aber ein solcher Umbau geht doch mit enormen Kosten einher. Es droht Massenarbeitslosigkeit!
Es ist unter anderem Aufgabe der Politik, vorausschauend zu sein und Übergangsstrukturen zu schaffen.
In Finnland will die Regierung im Kampf gegen den Klimawandel eine Viertagewoche einführen.
Das macht Sinn. Es gibt Hinweise in der Forschung, dass mit reduzierter Arbeitszeit eine ökologische Entlastung einhergeht. Scheinbar bleibt gar die Produktivität gleich. Abgesehen davon tut es den meisten Menschen gut, mehr Zeit für sich und die Familie zu haben. Wir würden also allenfalls etwas weniger produzieren, hätten aber weniger Umwelt- und Gesundheitskosten.
Prof. Dr. Irmi Seidl (57) studierte Wirtschaftswissenschaften und habilitierte an der Universität Zürich in Umweltwissenschaften. Seit 2006 leitet sie die Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Im September gaben sie und Angelika Zahrnt das Buch «Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft» heraus.
Prof. Dr. Irmi Seidl (57) studierte Wirtschaftswissenschaften und habilitierte an der Universität Zürich in Umweltwissenschaften. Seit 2006 leitet sie die Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Im September gaben sie und Angelika Zahrnt das Buch «Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft» heraus.