Ein Mittwochmorgen im Dezember. Eingepackt in dicke Mäntel eilen Forscher und Manager zu ihren Arbeitsplätzen im Novartis-Campus in Basel. Ein Prachtsbau säumt den anderen. Wir treffen Jörg Reinhardt (61) ganz oben in einem Glaspalast des US-Stararchitekten Frank Gehry.
Alles wäre wohl etwas bescheidener ausgefallen hier, wäre Reinhardt schon länger Präsident des Verwaltungsrates des Pharmakonzerns. Der Deutsche ist das pure Gegenteil seines Vorgängers Daniel Vasella, der den grossen Auftritt liebte.
Doch stille Wasser gründen tief: Reinhardt hat Novartis seit seinem Antritt 2013 massiv umgekrempelt – Leute ausgetauscht, Divisionen verkauft, einen Kulturwandel eingeleitet.
BLICK: Herr Reinhardt, Ihre Frau war jahrelang Apothekerin. Was haben Sie von ihr gelernt?
Jörg Reinhardt: Ich erhielt von ihr viele wertvolle Rückmeldungen. In ihrer Apotheke erfuhr sie, wo die wirklichen Bedürfnisse der Patienten liegen. Etwa, wie sie auf Medikamente ansprechen und welche Nebenwirkungen auftreten.
Wussten die Kunden, wer der Mann ihrer Apothekerin ist?
Nein. Die Reaktionen waren ungefiltert.
Sie traten Ihr Amt 2013 mit dem Versprechen an, Novartis solle weniger aggressiv werden und nicht mehr bei jedem Skandal zuvorderst auftauchen. Wo steht Novartis heute?
Wir sind offener geworden, arbeiten intern besser zusammen, auch das Bewusstsein für ethisches Verhalten wurde geschärft. Aber bei 120'000 Mitarbeitern können Sie nicht immer garantieren, dass sich jeder an die Richtlinien hält.
Wie lässt sich ein Hochseedampfer wie Novartis überhaupt steuern?
Die Kultur eines Unternehmens wird stark von der Spitze beeinflusst. Da kann man Akzente setzen: zum Beispiel mit den Werten, die man vorgibt. Früher hatten wir 20 Verhaltensweisen, heute sind es noch sechs.
Was steht zuoberst?
Innovation. Das ist für uns als Pharmaunternehmen absolut zentral. Wichtig sind mir aber auch Mut und Zusammenarbeit. Da hatten wir Defizite. Wir brauchen auf allen Ebenen Leute, die bereit sind, Entscheidungen zu treffen und Risiken einzugehen, die aber auch den Mut haben, zu sagen, wenn etwas nicht stimmt.
Sie selber hatten Mut bei der Ernennung Ihres neuen CEO: VasNarasimhan ist gerade mal 41.
Vas ist immerhin älter als der französische Präsident! Ausschlaggebend war sein Fokus auf Innovation. Zudem vertritt er hohe ethische Standards und besitzt die Fähigkeit, andere zu begeistern.
Er ist das jüngste Geschäftsleitungsmitglied. Alle anderen werden sich übergangen fühlen und nach Fehlern suchen.
Das glaube ich nicht. Die Wahl von Vas ist auf ein sehr gutes Echo gestossen. Seine Kollegen unterstützen die Wahl.
Es fällt auf, dass heute Junge früh an die Spitze gelangen. Zählt Erfahrung nicht mehr?
Erfahrung ist wichtig, aber weniger wichtig als vor 20 Jahren, als sich die Welt stetiger entwickelte. Wir leben in einer Zeit dramatischer Veränderungen. Da braucht es Chefs, die nach vorne schauen und mutige Entscheidungen treffen. Genau das verkörpert Vas.
Der heutige CEO Joe Jimenez ist ein Marketingmann, Vas Mediziner. Steht das für eine Neuausrichtung?
Die Ausrichtung auf Spitzenforschung ist überlebenswichtig für uns. Auch deshalb ist Vas der richtige Mann für uns.
Eine neue Novartis-Therapie macht Blutkrebs heilbar, was weltweit für Schlagzeilen sorgte. Allerdings kostet sie 475’000 Franken. Damit überfordern Sie das Gesundheitssystem!
Kymriah ist nicht einfach eine Tablette, sondern ein hochkomplexes Verfahren. Dem Patienten werden Zellen entnommen, gentherapeutisch modifiziert und wieder zugeführt. Das ist aufwendig und teuer. Deshalb ist der Preis gerechtfertigt. Denn Kymriah ist eine Einmal-Behandlung. Eine Standardtherapie, die jedes Jahr 100’000 Franken kostet, kann viel teurer werden. Die Kosten werden zudem nur verrechnet, wenn die Therapie anschlägt.
Wird Krebs bald generell heilbar?
Wir machen grosse Fortschritte und können viele Krebsleiden nachhaltig behandeln. Heilung bleibt aber ein grosses Wort.
Woran sterben wir eigentlich noch, wenn nicht mehr an Krebs?
Häufigste Todesursache sind nach wie vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Lebenserwartung mag bald auf mehr als 100 Jahre steigen, sie bleibt aber endlich.
Google-Tochter Calico will den Alterungsprozess besiegen. Forscht auch Novartis nach dem ewigen Leben?
Amerikaner sind sehr elegant, was die Formulierung von Visionen und Missionen angeht. Wir sind pragmatische Realisten. Unsterblichkeit wird es nicht geben.
Was darf eigentlich die Verlängerung des einzelnen Lebens die Allgemeinheit kosten?
Grossbritannien hat festgelegt, dass ein Lebensjahr 50’000 Franken kosten darf.
Das ist willkürlich.
Natürlich. Aber immerhin hatte jemand den Mut, einen Betrag zu nennen. Andere Länder werden dies auch tun müssen. Es wird aber immer Unterschiede geben, was die Öffentlichkeit zu zahlen bereit ist. In den USA ist das Solidaritätsprinzip viel weniger stark ausgeprägt als in Europa.
Die Gesundheitskosten können nicht ewig steigen, sonst kollabiert das System. Wie lautet Ihr Rezept?
Die Gesundheitskosten in der Schweiz steigen tatsächlich überdurchschnittlich, nicht aber die Medikamentenkosten. Dennoch werden diese oft an erster Stelle genannt, wenn man nach Schuldigen sucht. Man wird den Anstieg nur stoppen, wenn man aufhört, sich auf die zehn Prozent der Kosten einzuschiessen, welche die Medikamente verursachen. Man muss anderswo ansetzen, zum Beispiel bei unnötigen Diagnosen, Überbehandlung oder der Auslastung von technischen Geräten.
Novartis war 17 Jahre lang eng mit CEO und Verwaltungsratspräsident Daniel Vasella verbunden. Weht sein Geist noch durch den Campus?
Heute ist eine neue Generation von Managern am Ruder. Viele von ihnen haben Herrn Vasella nie kennengelernt. Wir schauen nach vorne und treiben die neue Kultur voran.
Vasella ist Ehrenpräsident von Novartis. Wie oft sehen Sie ihn?
Selten. Herr Vasella hat sich von Novartis zurückgezogen.
Er verdiente in vielen Jahren mehr als 20 Millionen Franken, Sie kommen auf 3,8 Millionen. Wurmt Sie das nicht?
Geld ist nicht meine primäre Antriebskraft. Ich fühle mich gut bezahlt für das, was ich tue. Wir müssen aber sehen, dass der Unterschied zu den Löhnen in den USA wächst. Ein Geschäftsleitungsmitglied verdient heute in der Schweiz etwa halb so viel wie in den USA.
Haben Sie deshalb Leute nicht einstellen können?
Nein, meines Wissens nicht.
Ob jemand 3, 5 oder 10 Millionen Franken verdient, spielt im Alltag keine Rolle – man kann sich alles leisten. Warum ist es für viele Top-Manager dennoch so wichtig?
Dahinter steckt Konkurrenzdenken. Die Mitarbeiter auf der höchsten Kaderstufe vergleichen sich mit Kollegen in anderen Firmen. Sie möchten die gleiche Wertschätzung wie diese erfahren. Der sichtbarste Ausdruck dafür ist das Gehalt.
Also ist Transparenz schädlich?
Sie hat sicher nicht dazu beigetragen, die Löhne zu drücken.
Im SonntagsBlick hat Ihr Vorgänger Vasella kritisiert, dass Sie die Divisionen Impfstoffe und rezeptfreie Medikamente verkauft haben. Sie hätten zu früh die Geduld verloren und den kleinen Divisionen zu wenig Zeit gegeben.
Das sehe ich anders: Beide Divisionen waren im internationalen Vergleich klein und nicht sehr profitabel. Deshalb haben wir sie mit dem britischen Konzern GlaxoSmithKline gegen deren Onkologie-Geschäft eingetauscht. Die Resultate sprechen für sich: Die Geschäfte entwickeln sich unter dem neuen Besitzer besser als zuvor. Beide profitieren. Deshalb halte ich den Deal für richtig.
Sie haben den Konzern zentralisiert. Vasella bemängelt, das führe zu viel mehr Bürokratie.
Auch hier geben uns die Resultate recht. Wir konnten die Kosten senken und die Abläufe verbessern. Andere Konzerne hatten diese Entwicklung viel früher eingeschlagen. Wir gehören zu den Nachzüglern.
Vasella kritisiert auch, die Augenheilsparte Alcon sei nach ihm schlecht geführt worden.
Richtig ist, dass Alcon auf dem Höhepunkt der Profitabilität gekauft wurde. Danach brachten asiatische Konkurrenten preisgünstigere Alternativen auf den Markt. Zudem verzeichnete Alcon Fehlschläge bei neuen Produkten. Mittlerweile haben wir die Division neu strukturiert und die Talsohle durchschritten. Wir werden in den nächsten eineinhalb Jahren entscheiden, ob wir am Geschäft mit Kontaktlinsen und chirurgischen Instrumenten festhalten oder dieses verkaufen.
Wie verändert die Digitalisierung Ihr Geschäft?
Sie betrifft alle Bereiche, am stärksten den Vertrieb sowie Forschung und Entwicklung. Heute beschäftigen wir 40’000 Aussendienstmitarbeitende. Durch die Digitalisierung werden wir künftig viel direktere Wege finden, um mit den Kunden zu kommunizieren.
Die 40’000 Aussendienstler werden also bald arbeitslos?
Wir werden auch in Zukunft einen Vertrieb brauchen. Aber das Profil der Angestellten wird sich massiv verändern.
Können Sie auch Forscher durch Maschinen ersetzen?
Ich denke, dass auch in der Forschung und Entwicklung vermehrt Roboter und künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen werden. Man wird einzelne Prozesse simulieren und dadurch zum Beispiel Tierversuche teilweise vermeiden können. Künstliche Intelligenz wird uns auch bei der Suche nach Patienten für klinische Studien helfen. Dadurch wird die Entwicklung effizienter und kostengünstiger.
Wie kommen Sie zum nötigen Know-how?
Wir können nicht die ganzen Kompetenzen selber aufbauen, sondern werden Technologien und Firmen zukaufen und mit anderen kooperieren müssen. Zudem haben wir einen Chief Digital Officer eingestellt, der unsere Aktivitäten führen und koordinieren wird.
UBS-Chef Sergio Ermotti stellt den Hauptsitz Schweiz in Frage. Ist das auch für Sie ein Thema?
Nein. Die Frage stellt sich für Banken anders als für die pharmazeutische Industrie. Für uns gibt es keinen Grund, am Hauptsitz zu rütteln. Novartis bleibt ein Schweizer Unternehmen. Die Rahmenbedingungen sind noch immer sehr gut, allerdings gibt es auch negative Entwicklungen.
Welche?
Zum Beispiel die anstehende Unternehmensverantwortungs-Initiative. Zudem warten wir bis heute auf eine Steuerreform. Auch der Zugang zu ausländischen Arbeitskräften ist für uns absolut zentral.
Das Parlament hat die Masseneinwanderungs-Initiative ultrasanft umgesetzt. Sie haben keinen Grund zur Klage.
Der administrative Aufwand bei der Rekrutierung wächst, bleibt aber im Rahmen des Erträglichen. Insofern sind wir zufrieden.
Alles wird schlimmer: mehr Stress, mehr Umweltverschmutzung, mehr Unsicherheit. Die Statistik sagt genau das Gegenteil: Alles wird besser. Dies zeigt die Entwicklung der Lebenserwartung, einer der besten Indikatoren für das allgemeine Wohlbefinden. In den letzten 35 Jahren ist die Lebenserwartung in der Schweiz dramatisch angestiegen. Heutige Babys leben gemäss Prognosen 85,3 (Frauen) beziehungsweise 81,5 Jahre (Männer). In den letzten 130 Jahren hat sich die Lebenserwartung verdoppelt (siehe Grafik). Im Schnitt leben wir alle drei Jahre ein Jahr länger, wobei Männer aufholen. Hundertjährige werden zur Normalität: Fast jedes vierte weibliche Baby, das heute geboren wird, wird gemäss Prognosen 100 Jahre alt. Bei den männlichen ist es jedes sechste. Allerdings: Nur 1 Prozent wird 110 Jahre alt.
Alles wird schlimmer: mehr Stress, mehr Umweltverschmutzung, mehr Unsicherheit. Die Statistik sagt genau das Gegenteil: Alles wird besser. Dies zeigt die Entwicklung der Lebenserwartung, einer der besten Indikatoren für das allgemeine Wohlbefinden. In den letzten 35 Jahren ist die Lebenserwartung in der Schweiz dramatisch angestiegen. Heutige Babys leben gemäss Prognosen 85,3 (Frauen) beziehungsweise 81,5 Jahre (Männer). In den letzten 130 Jahren hat sich die Lebenserwartung verdoppelt (siehe Grafik). Im Schnitt leben wir alle drei Jahre ein Jahr länger, wobei Männer aufholen. Hundertjährige werden zur Normalität: Fast jedes vierte weibliche Baby, das heute geboren wird, wird gemäss Prognosen 100 Jahre alt. Bei den männlichen ist es jedes sechste. Allerdings: Nur 1 Prozent wird 110 Jahre alt.