Neue Normalität am Arbeitsmarkt – das steckt dahinter
Der Job-Boom in der Schweiz ist vorbei

Der Arbeitskräftemangel ist rückläufig, es gibt wieder mehr Arbeitslose. Das ist die neue Normalität am Schweizer Arbeitsmarkt. Was dahinter steckt.
Publiziert: 16.07.2024 um 12:42 Uhr
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Aktualisiert: 16.07.2024 um 14:00 Uhr
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Der Arbeitsmarkt in der Schweiz ist wieder umkämpfter.
Foto: KEYSTONE/Gaetan Bally
Peter Rohner
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Peter Rohner und Tina Fischer
Handelszeitung

Wenn wegen mangelnder Arbeit Stellen abgebaut werden, ist das in der Regel kein gutes Zeichen – ausser für das RAV selbst. Wenn bei der regionalen Arbeitsvermittlung die Stellen wegfallen, jubelt das Land. Denn dann herrscht Vollbeschäftigung.

So geschehen während des Post-Corona-Booms der letzten Jahre: In mehreren Kantonen war die Arbeitslosigkeit so tief gesunken, dass die RAV-Angestellten nichts mehr zu tun hatten. In Bern und Luzern wurden deswegen Stellen gestrichen.

Artikel aus der «Handelszeitung»

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Tempi passati. Von Entlassungen beim RAV spricht heute niemand mehr. Denn der heiss gelaufene Arbeitsmarkt kühlt sich ab. Die Zahl der Arbeitslosen ist gegenüber dem Juni letzten Jahres um 22 Prozent auf 104’000 gestiegen. Die saisonal bereinigte Arbeitslosenquote ist vom Tiefpunkt Anfang 2023 von 1,9 auf 2,4 Prozent gestiegen.

Das heisst, es gibt für die Arbeitsämter wieder mehr zu tun. Viele neue Beamte braucht es aber noch nicht. «Man konnte den leichten Anstieg der Arbeitslosenquote mit dem bestehenden Personal und gezielten Rekrutierungen bewältigen», heisst es etwa beim Amt für Arbeitslosenversicherung des Kantons Bern.

Rückläufige Stelleninserate

Den neuen Wind am Arbeitsmarkt spürt nicht nur die Arbeitslosenversicherung. Auch andere Indikatoren und Stimmen aus der Praxis verdeutlichen, dass sich die Joblage nach der aussergewöhnlichen Phase gerade ändert.

Es werden zwar weiterhin Stellen geschaffen – im ersten Quartal waren es gemäss Bundesamt für Statistik landesweit 33’000 – aber die Dynamik lässt nach. Gemäss Adecco ist die Zahl der offenen Stellen im zweiten Quartal 8 Prozent gesunken und liegt 11 Prozent unter Vorjahresniveau.

Seit einem Jahr schon nehmen die Stelleninserate auf hohem Niveau ab. Das zeigt das Arbeitsmarkt-Dashboard «Swiss Job Tracker» der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich, das wöchentlich alle online ausgeschriebenen Stellenausschreibungen in der Schweiz erfasst. Am extremsten ist der Rückgang in den Sektoren Information und Kommunikation, im Gross- und Detailhandel sowie in der Gastronomie.

«Der allgemeine Inseraterückgang entspricht unseren Erwartungen, dass der Boom nicht ewig so weitergehen kann», sagt dazu der KOF-Arbeitsmarktökonom Michael Siegenthaler. Von einem Abschwung könne man aber nicht reden, sondern höchstens von einem Abbremsen. «Die Zahl der Inserate schwindet zwar, aber es sind immer noch 43 Prozent mehr Stellen ausgeschrieben als Anfang 2020.»

Korrektur einer «abnormalen» Phase

Siegenthaler verweist auch auf den Beschäftigungsindikator, der auf vierteljährlichen Umfragen basiert. Dieser hat 2022 die Spitze erreicht und nähert sich allmählich dem langfristigen Mittelwert an. Besonders deutlich zeigten sich die verschlechterten Beschäftigungsaussichten im verarbeitenden Gewerbe und in der Bankbranche. Der KOF-Indikator liegt aber immer noch über null, was bedeutet, dass die Zahl der Unternehmen, welche einen Stellenabbau ins Auge fassen, kleiner ist als die Zahl der Unternehmen, die einen Stellenaufbau anpeilen.

Von einer Normalisierung spricht auch Pascal Scheiwiller, CEO der Outplacement-Firma Von Rundstedt. Diese sei zu erwarten gewesen. Denn was zuvor passierte, sei schlichtweg «abnormal» gewesen: «Auf die Corona-Zeit folgten erst Entlassungen, bevor die Unternehmen nur noch rekrutierten», fasst Scheiwiller zusammen.

«Es wurde asymmetrisch eingestellt, aber nicht entlassen. Firmen füllten die strukturellen Veränderungen mit neuen Jobs, aber entliessen niemanden, weil man im Hype des Fachkräftemangels Angst hatte, Leute zu verlieren.» Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von Labour-Hoarding, zu Deutsch Personal-Horten. Doch je länger eine Konjunkturschwäche dauert, desto teurer wird es, Arbeitskräfte ungenutzt im Unternehmen zu halten. Dieser Punkt schien letztes Jahr erreicht.

Nach Übertreibung ist der Markt gesünder

In der Folge kommunizierten erste Firmen Massenentlassungen und starteten mit dem Abbau von Überkapazitäten. Besonders drastisch war die Reaktion beim Spinnereimaschinenhersteller Rieter und dem Schliesstechniker Dormakaba, wo Hunderte Stellen abgebaut werden. Aber auch Nestlé und Google traten auf die Bremse.

So wurden die Übertreibungen der Jahre zuvor etwas korrigiert. Scheiwiller spricht aber insgesamt von einem «gesunden Arbeitsmarkt». Es würden weiterhin Leute gesucht und eingestellt, jetzt aber sei eine normale Dynamik vorhanden.

Diese Normalisierung wird auch aus Sicht der Bewerberinnen und Bewerber bestätigt. Vor der Pandemie betrug die durchschnittliche Dauer bei der Stellensuche zeitweise über sechs Monate. Danach, im Boom nach Corona, fiel die Suchdauer auf unter fünf Monate. Nun suchen Kandidatinnen und Kandidaten im Schnitt wieder etwas mehr als fünf Monate lang, bis sie eine Stelle finden. Noch immer weniger lang als vor Corona, nur: «Wir sind uns das heute nicht mehr gewöhnt», so Scheiwiller.

Prioritäten des Personals verschieben sich

Der Job-Boom der letzten zwei Jahre führte auch dazu, dass das Machtverhältnis zugunsten der Arbeitnehmenden kippte. Sie liessen sich von Firmen umgarnen, forderten hohe Löhne bei gleichzeitiger Viertagewoche, wechselten oft die Stelle und freuten sich auf viele weitere Benefits. Der Lohn oder die Work-Life-Balance standen regelmässig an oberster Stelle bei Umfragen über die Prioritäten der Stellensuchenden. Auf der anderen Seite konnten die Unternehmen nicht allzu wählerisch sein. Am stärksten litt die Baubranche unter dem Personalmangel: Bisweilen gaben 60 Prozent der Unternehmen an, dass der Arbeitskräftemangel ein produktionshemmender Faktor sei.

Dieses Bild hat sich geändert. Der Fach- und Arbeitskräftemangel hat sich gemäss KOF-Umfragen etwas entspannt. Und die Arbeitnehmenden haben andere Prioritäten.

Laut der jüngsten Studie «Decoding Global Talent» des Online-Jobportals Jobcloud und der Boston Consulting Group steht zum ersten Mal die Arbeitsplatzsicherheit an vorderster Stelle.

Weniger Stellenwechsel

In Zeiten geopolitischer Instabilität, steigender Lebenshaltungskosten und dem rasanten Fortschritt auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz verlassen sich viele lieber auf ihren sicheren Job, als dass sie den Sprung ins Ungewisse wagen.

Trotzdem wären noch immer 50 Prozent der Arbeitnehmenden zwar grundsätzlich offen für einen Wechsel, wie das Beratungsunternehmen WTW jüngst für die Schweiz eruierte. Aber nur 16 Prozent machen wirklich Ernst. Im Umkehrschluss heisst das aber auch, dass 50 Prozent gerne im Beruf verweilen. Und diese Leute gilt es zu halten. Da die Alternativen für die Angestellten nicht mehr so zahlreich sind, dürfte dies einfacher werden.

Die Normalisierung des Arbeitsmarkts beendet die paradiesischen Zustände für Arbeitnehmende. Dafür können die Arbeitgeber etwas aufatmen.

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