Neue Lohnuntergrenze für Aldi-Verkäufer
4600 Franken Mindestlohn – doch kaum einer bekommt ihn

Der deutsche Discounter hebt die Untergrenze für Löhne im Schweizer Detailhandel auf ein neues Level. Gewerkschafter träumen schon von der 5000-Franken-Grenze. Doch die Sache hat einen Haken: Aldi Suisse bietet praktisch keine Vollzeitstellen an.
Publiziert: 12.12.2021 um 11:18 Uhr
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Aktualisiert: 15.12.2021 um 16:18 Uhr
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Aldi Suisse hat vergangene Woche eine Erhöhung des Mindestlohns auf 4600 Franken bekanntgegeben. Damit stösst das Unternehmen in neue Dimensionen vor. Doch es hat einen Haken: Kaum jemand kommt in den Genuss davon.
Foto: Keystone
Thomas Schlittler

Als Aldi Suisse vergangene Woche eine Erhöhung des Mindestlohns auf 4600 Franken bekannt gab, kam das grösste Lob von Aldi selbst. Die Rede war von einem «Ausrufezeichen», einem «Massstab für die Branche».

Tatsächlich stösst das Unternehmen in neue Dimensionen vor: Zum ersten Mal liegt der Mindestlohn in einer traditionellen Tieflohnbranche näher bei 5000 als bei 4000 Franken. Bis vor wenigen Jahren wäre das undenkbar gewesen – zumal Aldi seinen Mitarbeitern einen 13. Monatslohn zahlt.

Freude ist gross

Bei Marco Geu, dem Detailhandelsverantwortlichen der Gewerkschaft Syna, ist die Freude gross: «4600-mal 13 ist eine Sensation, und wir können wohl festhalten: Mittelfristig wird ein Mindestlohn von 5000 Franken im Detailhandel realistisch werden.»

Treiber dieser Entwicklung sind zweifellos die deutschen Discounter. Allerdings sind deren Lohnsprünge nicht ganz freiwillig, weiss Geu: «Aldi und Lidl expandieren immer noch stark und brauchen für ihr Wachstum genügend Personal. Und in einer Tieflohnbranche ist der Mindestlohn eine wichtige Grösse für die Rekrutierung, insbesondere für ungelerntes Personal.»

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Coop und Migros können nicht mithalten

Die Schweizer Platzhirsche können mit der neuen Lohnuntergrenze von Aldi nicht annähernd mithalten: Bei Coop und Migros beträgt der Mindestlohn für Ungelernte 4100, bei Denner 4200 Franken. Am nächsten kommt Lidl Schweiz an Aldi heran. Dort verdienen Mitarbeiter im Minimum 4360 Franken pro Monat.

400 oder gar 500 Franken mehr – das schenkt ein, erst recht bei niedrigem Lohnniveau. Es stellt sich also die Frage: Wieso sitzt überhaupt noch jemand bei Denner, Migros und Coop an der Kasse? Droht bald der grosse Exodus?

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Andere Vorzüge

«Die höchsten Löhne zu zahlen, ist kein Garant für nachhaltigen Erfolg, das beweist nicht nur der Profifussball», sagt Denner-Sprecher Thomas Kaderli. Er verweist darauf, dass die Fluktuation im Unternehmen tief sei und gar weiter sinke. «Unsere Mitarbeitenden schätzen die familiäre Atmosphäre in unseren kleinflächigen Läden, aber auch die zahlreichen Wege, um im Verkauf rasch vorwärtszukommen. Uns plagen auch nach über 50 Jahren keine Nachwuchssorgen.»

Coop und Migros geben sich ebenfalls gelassen und betonen lieber die eigenen Vorzüge: 41-Stunden-Woche, zwei Drittel der Pensionskassenbeiträge, attraktive Lohnnebenleistungen. Migros-Sprecherin Cristina Maurer erwähnt zudem, dass beim orangen Riesen nur «ein sehr geringer Anteil» des Personals zum Mindestlohn arbeite. Zu den 4600 Franken von Aldi merkt sie vielsagend an: «Die Frage ist, wie viele Personen tatsächlich in den Genuss solcher Beträge kommen, wenn praktisch alle Vakanzen bloss in Teilzeit ausgeschrieben sind.»

Immer wieder Kritik am deutschen Discounter

Diesem Vorwurf sind die deutschen Discounter in der Schweiz immer wieder ausgesetzt. Eine ehemalige Aldi-Angestellte schrieb kürzlich in einem Onlinekommentar: «Bei Aldi sind alle normalen Verkäufer 70 Prozent angestellt. (...) Es arbeiten aber alle mindestens 115 Prozent. Die Überstunden werden nur zögerlich ausbezahlt, bis man den Überblick verliert.» Eine Auswertung von SonntagsBlick zeigt: Unter den 146 Stellen im Verkauf, die aktuell bei Aldi Suisse ausgeschrieben sind, ist keine einzige Vollzeitstelle, 133 bieten maximal 70-Prozent-Pensen.

Anne Rubin, Chefin Detailhandel der Gewerkschaft Unia: «Die normalen Verkäuferinnen bei Aldi sind fast systematisch Teilzeit angestellt. Das gibt dem Unternehmen mehr Flexibilität.»

Aldi wehrt sich

Aldi weist den Vorwurf, dass nicht immer alle Arbeitsstunden vergütet werden, vehement zurück: «Geleistete Überstunden werden konsequent ausbezahlt oder nach Möglichkeit durch Freizeit kompensiert. Zudem überprüfen wir regelmässig das Verhältnis zwischen vertraglich vereinbartem und effektiv geleistetem Arbeitspensum.» Bei regelmässigen Verschiebungen könne mit dem Einverständnis des Mitarbeitenden in vielen Fällen eine Anpassung des Pensums vorgenommen werden.

Seine Handhabung von Teilzeitjobs erklärt das Unternehmen mit den Bedürfnissen der Mitarbeitenden: «Sie entsprechen dem Zeitgeist und werden vor allem von den Mitarbeitenden mit Familien sehr geschätzt.» Und im Hinblick darauf, dass für Verkäufer keine einzige Vollzeitstelle ausgeschrieben ist, schreibt die Medienstelle: «Da zeigt sich aus unserer Sicht in der Branche generell das gleiche Bild.»

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Grosse Margen während Pandemie

Die Stellenportale von Denner, Migros und Coop widerlegen diese Aussage. Zwar gibt es auch dort viele Teilzeitstellen, aber auch etliche 80- bis 100-Prozent-Pensen. Gewerkschafterin Rubin, die unter anderem eine Sozialpartnerschaft mit Coop pflegt, sagt: «Bei Coop haben wir viele Verkäuferinnen, die 100 Prozent arbeiten.»

In der Lohnfrage ist Rubin jedoch von Coop und Migros enttäuscht: «Nach zwei Jahren Pandemie, wo die beiden Grossen dank des riesigen Engagements der Mitarbeitenden gute Margen erzielt haben, hätten sie grössere Lohnerhöhungen genehmigen können.»

Arbeitsbedingungen im Schweizer Detailhandel
Foto: Blick Grafik


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