Nahrungsmittelmulti in der Krise
Kriegt Nestlé unter dem neuen CEO Laurent Freixe die Kurve?

Der CEO ist ein Konzernveteran – und steht genau deshalb unter Beobachtung. Laurent Freixe muss sich auch gegen interne Vorbehalte behaupten.
Publiziert: 00:02 Uhr
|
Aktualisiert: 07:09 Uhr
Kämpfer für den Turnaround: Laurent Freixe soll Nestlé wieder zu alten Wachstumszahlen und steigenden Aktienkursen führen.
Foto: AFP, Bloomberg

Auf einen Blick

Die Zusammenfassung von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast.
dirk-ruschmann.jpg
Dirk Ruschmann
Bilanz

Handball ist ein Sport für harte Jungs. Am Kreis wird ordentlich ausgeteilt, Ellbogen wischen über gegnerische Gesichter, Hände ziehen an Trikots und halten Wurfarme fest. Laurent Freixe war mit 16 französischer Meister im Handball, im Jahr darauf noch einmal Vize. Mit Nahkampf hat der Mann Erfahrung.

Das widerspricht dem Stereotyp, Freixe sei ein freundlicher Mensch der leisen Töne – doch auch die beherrscht er. Bei der Vorbereitung seines ersten Kapitalmarkttages als CEO im vergangenen November liess er während der Probe nur vereinzelt kurze Bemerkungen fallen wie «Könnte man hier nicht» oder «Habt ihr auch bedacht». Sein Vorgänger Mark Schneider hatte hier, wie Teilnehmer berichten, gern mit Nachdruck angeordnet, wie er es haben wollte – und wie nicht.

Am 13. Februar stellten sich für Freixe wie Schneider entscheidende Weichen: Beide ernteten willkommene Erfolgsmeldungen. Schneider wurde in den Aufsichtsrat der deutschen Siemens AG gewählt, mit 99,18 Prozent erzielte er die meisten Ja-Stimmen aller Kandidaten. In zwei Jahren soll er dort den Vorsitzenden Jim Hagemann Snabe beerben; Siemens, das ist Champions League der Wirtschaft. Bei Nestlé präsentierte Laurent Freixe am selben Tag die Jahresergebnisse, übertraf in Umsatz, Gewinnmarge und organischem Wachstum die Erwartungen der Finanzmärkte. Vor allem im vierten Quartal, als Freixe bereits im Chefsessel sass, hatte er das Geschäft beschleunigt, zudem bereits einige Hundert Millionen seines neuen Kostensparprogramms eingesammelt.

Diese Nachrichten liessen die Nestlé-Aktie um mehr als sechs Prozent anziehen, und abgesehen von Einzelstimmen wie Bernstein-Analyst Callum Elliott, der verwirrt zugab, den Kursanstieg «nicht nachvollziehen» zu können, spendeten die meisten Kommentatoren Lob und Zuversicht. Nestlé stehe «vor dem ersten Schritt ins Licht», flötete die «Finanz und Wirtschaft», Baader-Analyst Andreas von Arx erkannte «frühe Anzeichen eines Turnarounds», Jean-Philippe Bertschy von Vontobel sprach von einem «Neuanfang», und Patrik Schwendimann von der Zürcher Kantonalbank taxierte den fairen Wert der Aktie auf 103 Franken. Vor dem ominösen 13. Februar hatte sie noch unter 80 notiert. 

Irrationaler Überschwang

Zwar befand sich Nestlé nie in einer echten Krise – als Weltmarktführer der wachsenden Branchen Nahrungsmittel und Tierfutter mit nach wie vor steigender Dividende und rund elf Milliarden Franken Reingewinn. Die Aktie hatte zwar Krater in private Depots und Portfolios der Pensionskassen gerissen, aber «der Kursrückgang war genauso übertrieben wie der Anstieg bis auf knapp 130 Franken zuvor», konstatiert Bertschy. Zum CEO-Wechsel hatte nicht die nackte Performance, sondern vor allem aufbrechende interne Konflikte in der tatsächlich Teppich-belegten Chefetage im Hauptquartier Vevey geführt. Um die Personalie Freixe und seine Strategie zu verstehen, lohnt sich der Blick zurück.

Das Dilemma geht zurück auf das Jahr 2016. Konzernpräsident Peter Brabeck hatte CEO Paul Bulcke unmissverständlich deutlich gemacht: Um Präsident zu werden, muss er einen CEO von aussen akzeptieren, einen Veränderer, der Nestlé schüttelt. Schon 2008, als die Nachfolge Brabecks als CEO anstand, hatte dieser nicht den «Nestlé-Lifer» Bulcke favorisiert, sondern den Aussenseiter Paul Polman – der, von Procter & Gamble zu Nestlé gekommen, direkt als CFO einstieg und sich dann als Americas-Chef kurz operativ warmlaufen sollte.

Ein Duett für mehr Wachstum: Freixe und Bulcke hatten ähnliche Stationen im Konzern. Ihre Beziehung ist gut, war aber nicht nur störungsfrei.
Foto: William Gammuto

Zwar konnte Brabeck Polman nicht durchsetzen. Doch der Graben war schon damals überdeutlich: Bulcke ist ein Mann des Kerngeschäfts, bodenständig und beliebt bei der Truppe, während Brabeck Tiefkühlpizza, Maggi und Schokoladenriegel nie genügt hatten. Er nahm sich Megathemen wie drohender Wasserknappheit an, die er für schlimmer als den Klimawandel hielt. Das Nestlé-Sponsoring des Salzburger Opernfestivals, ein Herzensanliegen des kunstsinnigen Österreichers Brabeck, endete unter Bulckes Präsidentschaft abrupt.

Als dessen CEO-Nachfolger hatte Brabeck den Chef des wachstumsstarken deutschen Gesundheitskonzerns Fresenius, Mark Schneider, ausgewählt – und bat ihn, mit Bulcke Zeit zu verbringen, um die Chance für eine Zusammenarbeit auszuloten. Dass beide dann bejahten, so grundverschieden sie auch sind, geschah «wohl aus den falschen Gründen», sagt einer, der beide sehr gut kennt. Für Schneider war Nestlé ein Traummandat, und Bulcke hatte lange um das Steuerpult «seiner» Nestlé gekämpft, für die er seit 1979 arbeitet. Wohl um die Arbeitsgrundlage nicht von Anfang an zu torpedieren, gab Schneider zunächst den Nestlé-Traditionalisten, ganz im Sinne Bulckes: Er stoppte von Brabeck einst forcierte Ausflüge in die Kosmetik, definierte klassische Kategorien wie Kaffee und Tierfutter als zentrale Wachstumspfeiler. Bulcke und Schneider fanden laut Insidern zwar zu einem funktionierenden Verhältnis, tauschten sich loyal aus, aber keimfrei war die Beziehung wohl nie.

Ménage à trois

Und so fanden sie sich wieder in einer Ménage à trois, die keinem wirklich Freude bescherte: Charismatiker und Altmeister Brabeck, entfremdet von beiden Epigonen, doch mit seinem Vermögen in Nestlé-Aktien an deren Performance gebunden. Der intellektuell brillante Portfoliomanager Schneider, der aber nie selber Glace verkauft hatte, und der tief im Kerngeschäft verwurzelte Bulcke.

Es war ein Burgfrieden mit dissonantem Grundrauschen. Schneider habe für vieles kämpfen müssen bei Bulcke, berichtet ein Insider, selbst der viel gelobte Kauf der Starbucks-Markenlizenz sei umstritten gewesen. Personalentscheide, auch mehrere Ebenen unterhalb der Konzernleitung, habe Schneider nur mit Zustimmung des Chairmans umsetzen können.

Bulcke wiederum sah Schneider wieder von der klassischen Nestlé abrücken. Angestammte Geschäftsbereiche, etwa lokale Flaschenwassermarken, Herta-Wurst oder das Speiseeis, wurden aussortiert, dafür zahlreiche Start-ups akquiriert, darunter die später kritisierte Milliardenübernahme von Aimmune mit dem wesentlichen Inhalt einer Therapie gegen Erdnussallergie. Neue Produkte lancierte Nestlé nun in viel schnellerer Kadenz, räumte sie bisweilen aber auch schnell wieder ab, wenn sie enttäuschten. ESG-Themen breiteten sich aus, einem Insider zufolge sollten Fleischersatz-Lebensmittel zu einer eigenen Geschäftssparte aufsteigen.

Ein gutes Fünftel des 2000-Marken-Portfolios baute Schneider in seinen ersten Jahren um, flankiert vom aktivistischen Investor Dan Loeb und von dessen veröffentlichten Forderungskatalogen. Ein Schneider-Vertrauter sagt, ohne Loebs Getrommel «hätte Mark sehr viel weniger bei Nestlé bewegen können». Dabei definierte Schneider genau das als das eigentliche «Game» von Nestlé: «bold moves» in Kategorien und Regionen, die schneller wachsen als der Gesamtmarkt. Wie bei Brabeck: rein ins Tierfutter, raus aus Milchprodukten in Europa. Von aussen half das Niedrigzinsumfeld, das die Nestlé-Aktie zu einem Bond-Ersatz avancieren liess. Zudem kam Schneiders – für Nestlé-Standards – ungekannte Offenheit für die Bedürfnisse des Finanzmarkts bei Investoren gut an. Es habe damals nicht nur eine Nestlé-Affinität an den Börsen gegeben, soll Bulcke in kleiner Runde einmal gesagt haben, sondern auch eine «Mark-Affinität». Die Kulmination kam dann mit der Covid-Pandemie: Ausgangsbeschränkungen trieb die Konsumenten an ihre Herde und Backöfen, Hunde und Katzen gesellten sich zu vereinsamenden Grossstädtern auf die Sofas – Nestlé verkaufte Tiefkühllebensmittel, Kaffee oder Tierfutter im Akkord. Der Aktienkurs, zu Schneiders Antritt bei 70 Franken, kratzte bisweilen an 130 Franken.

Schwellungen im Depot

Auch Brabeck und Bulcke dürften daran, angesichts kräftiger Schwellungen in ihren Aktiendepots, Freude gehabt haben.

Doch dann drehte der Wind. Die Zinsen stiegen, die Covid-Sonderkonjunktur lief aus, und den Konsumeinbruch bei Markenartikeln, wie sie Nestlé verkauft, der vor allem im wichtigsten Konzernmarkt USA einsetzte, hatte Schneider in Dauer und Heftigkeit unterschätzt, sagte er später selbstkritisch. Kleinere Fehltritte wie der Aimmune-Kauf oder die lange vor seiner Zeit eingebauten falschen Filter in Mineralwasserbrunnen wurden nun offen dem CEO angekreidet. Der, so kolportieren Nestlé-Leute, sich zunehmend vom Team abgewendet habe. Und die Mitte 2024 gekürzte Wachstumsprognose löste Anpassungen in den Bewertungsmodellen der Analysten aus und damit weiteren Druck auf den Börsenkurs. Die Aktie rauschte unbarmherzig talwärts.

Das Ende soll ihn dennoch höchst überraschend ereilt haben. Selbst im Verwaltungsrat mit einem Sitz vertreten, hatte er sicherlich erwartet, dass ihn das Gremium zu Erörterungen laden werde, ob er samt seiner Strategie noch der Richtige sei. Passiert sei jedoch – nichts. Stattdessen bekam er schlicht die Trennung mitgeteilt, die offenbar vor allem von Chairman Bulcke forciert worden war. Welche Rolle der Lead Independent Director im Verwaltungsrat, Pablo Isla, dabei spielte, ist unklar; diese Funktion dient eigentlich einer gewissen Kontrolle des Chairman sowie als Instanz, die die Einhaltung der Corporate Governance überwacht – wozu ein Gespräch mit Schneider sicherlich gehört hätte. Im Nachgang soll es im Verwaltungsrat noch ordentlich Krach über die Art der Absetzung gegeben haben. Als letzter offizieller Akt folgte am 23. August eine durchaus bizarre Audioschaltung für Analysten mit Bulcke, Freixe und Schneider, der ein kurzes Abschiedsstatement vom Blatt las und dann schwieg.

Und so avancierte Laurent Freixe im September zum CEO.

Der Franzose ist zwar in der Food-Branche eine Grösse, bei Nestlé ohnehin, doch ausserhalb wenig bekannt. Nach einem halben Jahr als CEO einer globalen Wirtschaftsikone misst sein Wikipedia-Eintrag noch immer dürre vier Zeilen. Sein offizielles CV beim Konzern, wo er 2026 sein 40-Jahr-Dienstjubiläum feiern wird, ist kaum aufschlussreicher.

Laurent François Charles Freixe, geboren im April 1962 im Sternzeichen Stier («willensstark und liebenswert» laut Zuckerpäckchen-Horoskop), wuchs in Paris auf, in einer Familie von Elektroingenieuren. Doch den Schüler und Hobby-Handballer Laurent interessierten «humanistische» Fächer mehr. An einer Business School in Lille studierte er Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Marketing, hatte den Abschluss mit 23 in der Tasche. Das Arbeiten mit Markenartikeln reizte ihn. Freixe bewarb sich nicht nur bei Nestlé, in Frankreich waren auch Danone oder L’Oréal logische Adressaten, doch Nestlé stand oben auf der Liste, antwortete am schnellsten und offerierte zügig einen Job, «certainly my best decision», sagt Freixe, viersprachig wie viele Nestlé-Topshots.

Zügiger aufstieg

Er startete im Vertrieb, verhandelte mit Supermärkten, lernte, Beziehungen zu pflegen, Marken vor Ort zu positionieren. Und erkannte schnell, dass Brand Manager, die eng mit den Vertrieblern kooperieren, bessere Ergebnisse erzielen. Er wechselte in die Marktforschung, analysierte Kundengruppen und Konkurrenten, beriet die Marketingabteilungen – erfolgreich, denn es gingen zahlreiche Angebote ein, Markenchef zu werden. Er entschied sich für den Bereich «Dairy and Nutrition». Milchprodukte sind in Frankreich ein heftig umkämpfter Markt, zudem galt sein künftiger Chef als höchst fordernd, «aber ich dachte, dass ich dort am meisten lernen kann». Er avancierte vom Junior zum Senior Brand Manager, führte eine Marke ähnlich der seligen Schweizer Stalden-Creme und brach den historischen Verkaufsrekord. Als Markenchef war er zum ersten Mal «end to end» für einen Brand zuständig, von Produktion via Marketing bis zum Vertrieb. Ein wenig Unternehmertum im Unternehmen.

Beim Tiefkühlbrand Findus managte er bereits die Hälfte des Portfolios und fasste eine spezielle Mission: Fischstäbchen-Marktführer Käpt’n Iglo in die Knie zwingen. Viele Jahre hatte Nestlé das versucht, gelungen war es nie. Freixe schaffte es: Er lancierte Croustibat, die Marke existiert noch. Sie bodigte nicht nur den Käpt’n, sondern «war bald die bestverkaufte aller Tiefkühlmarken in Frankreich». Nach einer Station als Marketingchef für Milchprodukte und Nutrition in der Landeszentrale folgte eine Feuerwehrübung: Das Süsswarengeschäft in Frankreich (KitKat, Lion) hatte sich mit überteuerten Werbeaktionen in eine Krise gesnackt. Freixe baute das Team um und brachte das Geschäft zurück in die Wachstumszahlen.

Den Kapitän niedergerungen: In Frankreich lancierte Freixe die Marke Croustibat, um Käpt’n Iglo und dessen Fischstäbchen auszustechen. Es gelang.
Foto: hadrian - ifeelstock

Anschliessend folgte die Leitung der Division Milchprodukte und Nutrition bei Nestlé France. Die meisten Kollegen waren 50 oder älter, Freixe gerade 37.

Nach gut drei Jahren avancierte er zum Länderchef, hochgradig erwünschte Station im Verwendungsaufbau für höhere Weihen. In Ungarn führte er 2000 Mitarbeiter, kannte zum Start weder Land, Sprache noch die lokalen Nestlé-Marken und nur einen einzigen Manager von früher. Dank solcher Erfahrungen, sagt Freixe, «bildet Nestlé grossartige Führungspersönlichkeiten aus: Unsere Talente müssen sich ausserhalb ihrer Komfortzone beweisen, anpassen und durchsetzen.»

Natürlich meint Freixe auch sich selbst. Bei jeder seiner Stationen spricht er Erfahrungen und Erfolge an. Ganz offensichtlich hat er sich bewusst gemacht oder machen lassen, dass er ein öffentliches Image aufbauen muss. Denn die Zeit, als CEO den Supertanker Nestlé zu prägen, wird knapp, im April erreicht er das 63. Lebensjahr. Seine Frau Agata, einst selbst Nestlé-Managerin und heute Topshot bei der weltweiten Kommunikationsagentur Publicis, dürfte wertvollen Input beisteuern können. Der Sohn arbeitet als Datenspezialist, die Tochter ist Künstlerin.

Karriere statt Glace

Auch Auftritte bei Politik und Medien, Repräsentieren des Konzerns, lernte er in Ungarn. Dreieinhalb Jahre blieb er dort.

Es folgte die Leitung der Märkte Spanien und Portugal. Iberien gilt bei Nestlé als einträgliche Vorzeigeeinheit; Freixe war der erste Nicht-Spanier auf dem Posten. Im September 2008, weniger als zwei Jahre in einem Job, den die Vorgänger jeweils ein Jahrzehnt ausgeübt hatten, war er in Vevey, um seine Strategie für das regionale Eiscremegeschäft darzulegen, da kam eine Einladung zum Lunch mit Europa-Chef Luis Cantarell und dem neuen CEO Paul Bulcke. Statt um Glace ging es um Karriere – der gegen Bulcke unterlegene Polman würde zum Konkurrenten Unilever wechseln, Cantarell Polman als Americas-Chef beerben, und dessen frei werdenden Stuhl in Europa solle Freixe, gerade erst Mitte 40, übernehmen. 

In der Finanzkrise stand Europa im Bann der Rezession. Hier entwickelte Freixe sein Konzept des «virtuous circle», das er auch als CEO nutzt: Produktivität steigern und Kosten senken, damit Gelder frei werden, um in neue Produkte und Marketing zu investieren – um Wachstum auszulösen, nicht um die Margen zu steigern. Denn das lasse sich, ohne Wachstum, nur auf kurze Frist durchhalten. Es gelang, das Wachstum zog an, auch dank Erfolgsgeschichten wie der neuen Kaffeemarke Nescafé Dolce Gusto, die unter Europa-Chef Freixe zur Milliardenmarke reifte.

Kernkategorie Kaffee: Neben Tierfutter ist Kaffee das zentrale Produkt bei Nestlé. Dolce Gusto wurde unter Freixe zur Milliardenmarke.
Foto: Imago

2014 folgte der Wechsel in die USA als Chef der «Americas», punkto Umsatz fast doppelt so gross wie Europa. Auch hier standen Umbauten an, die spürbarste war der Umzug des Hauptquartiers von Glendale in Kalifornien nach Arlington, Virginia, an der Ostküste, näher zu Konsumenten, Bundesbehörden, vielen guten Hochschulen. Als Schneider im Herbst 2021 aus geopolitischen Gründen die USA und China zu eigenen Regionalzonen mit Sitz in der Konzernleitung erhob und für Freixe die kleine Zone Lateinamerika blieb, nahm er es professionell hin. Diverse Konzernleute bestätigen: Nie hat Freixe gegen Schneider gearbeitet.

Brands lancieren und zum Wachsen bringen, Teams bauen oder umbauen, Kunden bearbeiten, Märkte und Trends analysieren, an der Konzernstrategie feilen, eigene P&Ls und Grossregionen erfolgreich führen – das ist das Skillset von Laurent Freixe. Wie Bulcke kennt er das Geschäft bottom-up, vom Joghurtverkäufer bis zum Chef Americas; ein solcher verantwortet bei Nestlé heute Umsätze von rund 45 Milliarden Franken. Das entspricht einer kompletten Novartis.

Freixe wendet nun auch als CEO seine erprobten Wachstumsrezepte an: Produkte entlang den Bedürfnissen der Konsumenten anzubieten, «die Welt ändert sich, also müssen auch wir uns ändern». Beispiel Petcare: «Die Alterung der Bevölkerung und die Urbanisierung beschleunigen den Trend zu immer mehr Haustieren.» Und während in Europa mehr als die Hälfte allen Tierfutters von industriellen Herstellern wie Nestlé kommt, ist es in Entwicklungsländern erst ein Fünftel, diese Lücke werde sich mit wachsendem Wohlstand schliessen. Zudem verfeinert Nestlés Futtermarke Purina ihr Sortiment, hat inzwischen «Produkte, die Katzenallergien oder Demenz bei alten Hunden abmildern helfen», sagt Freixe. Beim Kaffee lanciert Nescafé ein Espresso-Konzentrat, bringt Dolce Gusto neue Maschinen, kämpft Nespresso gegen die Absatzschwäche in Europa mit mehr Verkaufsstellen. Das Wassergeschäft, anfällig für Reputationsschäden und ohnehin nicht allzu lukrativ, hat Freixe unter Beobachtung gestellt.

Ausserdem revitalisiert er das Nestlé-Mantra der «60/40+»-Tests, die unter Schneider an Stellenwert verloren hatten. In Blindtests müssen mindestens sechs von zehn Probanden das Nestlé-Produkt dem der Wettbewerber vorziehen, das Plus steht für zusätzliche gesundheitsfördernde Ingredienzen.

Ein eigener Sitzungsraum mit drei monströsen Bildschirmen dient nun als Kommandobasis für den «Operational Masterplan», mit dem Freixe Umsätze, Wachstum, Marktanteil, Vertrieb und zahlreiche weitere Kennzahlen der Bereiche überwacht; «wir haben einen festen Slot in den monatlichen Sitzungen des Executive Board, wo wir gemeinsam vor dem Dashboard für die Reviews stehen». Die Daten kommen automatisiert aus dem System, können weit in die Tiefe verfeinert werden. Eine Ampelwertung zeigt die Ist-Stände, man konzentriert sich logischerweise auf jene Bereiche, die rot leuchten.

Das ist gelebtes «forward to basics», was man nicht mit «rückwärts» verwechseln dürfe, betont Paul Bulcke. Vielmehr stehe «basics» für «die Maschine, die Nestlé immer angetrieben hat und sich ständig erneuert – die jedoch zuletzt etwas von ihrem Mojo verloren hatte». Zuletzt, das lässt sich übersetzen mit: während Schneider.

Kein Schleifer

Kerngeschäft reloaded – dass das für eine Wachstumsbeschleunigung zurück in den langjährigen Zielbereich genügen kann, bestätigt Patrik Schwendimann von der ZKB, einer der intimsten Nestlé-Kenner. Schon kurz vor Weihnachten, noch bevor die ermutigenden Jahresergebnisse 2024 bekannt wurden, kam er in einer grossen Analyse zu dem Urteil, dass «sich auf dem aktuellen Produktmix mittelfristig ein organisches Wachstum von vier bis sechs Prozent ableiten lässt».

Doch im Verwaltungsrat kursieren Vorbehalte. Freixe könnte ein wenig «zu nett» sein für den CEO-Job, ist einer. Dass der Konzern einen «Turnaround-Manager» benötige, ein zweiter.

Was tatsächlich zutrifft: Freixe ist kein Schleifer. Die Region Americas galt unter dem Franzosen als «happy zone», weil der Umgang kooperativer war als im Rest des Konzerns. Er habe seine Erfolge auch einer klugen Personalauswahl zu verdanken, oft auf die richtigen Leute gesetzt, sagt ein Konzernveteran – jedoch bisweilen gezögert, Leistungsverweigerern scharf ins Kreuz zu atmen. Dass er allerdings auch anders kann, zeigt einer seiner ersten Chefentscheide.

Kurzerhand drehte er Schneiders Ausbau der Weltregionen von drei auf fünf zurück, gliederte die USA und China wieder ein. Den Rücksturz ins alte System begründet Freixe nicht mit der harzigen Umsetzung, die Interne beobachteten, vielmehr «waren diese Manager, wie der China-Chef, wegen der Reisen ins Head Office zweieinhalb Monate im Jahr von ihren Märkten abwesend», zudem sei das Wachstum der Konzernleitung «nicht das gewünschte Signal an die Organisation». Freixe entzog China-Chef David Zhang dessen Sitz im Executive Board wieder, das kann schmerzen. Beim Handball lernt man eben auch auszuteilen. Intern, sagt Freixe, hätten den Schritt alle verstanden. Handball liebt er, weil es ein «absoluter Teamsport» sei, «alle verteidigen gemeinsam, alle greifen gemeinsam an». Ein Schelm, wer die Analogie nicht erkennt.

Hang zur Nostalgie

Skurril mutet die Sehnsucht nach einem «Turnaround-CEO» an. So einen hatte man in Person von Mark Schneider ja gerade erst gegangen, dies zudem mit der Begründung, er habe das Kerngeschäft vernachlässigt und das Team nicht mehr erreicht – und mit Freixe einen Nachfolger installiert, der genau jene vermissten Tugenden verkörpert. Womöglich trägt zu den Distanzierungsritualen bei, dass auch Bulcke und Freixe nicht immer dem Motto «Great minds think alike» folgten. Eine Episode, die im ganzen Konzern die Runde machte, ist der Umgang mit dem US-Süsswarengeschäft. Freixe, damals Chef Americas, habe die schwächelnden Brands wie Butterfinger oder Crunch längst abstossen wollen, Bulcke aber, dem Konzernmanager einen Hang zur Nostalgie nachsagen, habe als CEO stets gebremst, stattdessen mehr Marketing vorgeschlagen. Schneider, kaum als CEO im Amt, verkaufte das Geschäft an Ferrero.

Angesichts dieser Verwerfungen gehen Kenner des Boards davon aus, dass einige Insassen vorbeugend Rückzugspositionen aufbauen, falls Freixe scheitern sollte – im Wissen, dass ihre Finger dann vor allem in die eigene Richtung zeigen sollten und die strafenden Blicke der Investoren das gesamte Board ableuchten würden. Bulcke stärkt dem CEO jedenfalls öffentlich den Rücken; Freixe, sagt er, «macht es sehr gut, und er ist nicht allein». So oder so sitzt das Board mit ihm im selben Boot – es hat gar keine Wahl, als ihn zu unterstützen. Scheitert Freixe, ist das Board gescheitert. 

Wie viel Lust Chairman Bulcke selbst am Job noch hat, ist unklar, manche Beobachter attestieren ihm etwas Müdigkeit, andere haben «einen Energieschub» diagnostiziert. Der 70-Jährige wird sich wohl spätestens 2026 zurückziehen, wenn auch die Verwaltungsräte Renato Fassbind und Patrick Aebischer abtreten. Zugriff auf die Nachfolge hätte am ehesten Pablo Isla; der langjährige Vormann des Kleiderkonzerns Inditex (Zara) kann Marken und Konsumgüter. Neuerdings werden aber auch Luca Maestri Ambitionen nachgesagt. Der hat seinen Hauptjob als Finanzchef von Konsumgüter-Ikone Apple zum Jahresende an den Nagel gehängt.

Nachfolger stehen bereit

Die Senkung der Wachstums-Guidance auf zwei Prozent verschafft Freixe nun Spielraum, gute Zahlen abzuliefern. Noch sagt Bulcke zu einer möglichen Verlängerung für Freixe, der sei ja «erst wenige Monate im Amt, das klären wir, wenn die Zeit kommt». Freixe selbst «hatte nie die Überlegung, dass 65 das Ende des Arbeitslebens ist», er wolle aktiv bleiben, «nicht nur reisen und Golf spielen», und ist «grundsätzlich offen», über 65 hinaus den Job zu machen. Liefert er einige gute Quartale, werden die Zweifler verstummen und Freixe an Macht gewinnen.

Daran wiederum hängt seine eigene Nachfolge. Der 54-jährige Europa-Chef Guillaume Le Cunff, ein fähiger Macher, wäre in kurzer Frist die logische Wahl. Je länger Freixe amtiert, desto stärker steigen die Chancen von Nespresso-Chef Philipp Navratil. Das 48-jährige Talent, frisch in die Konzernleitung befördert, hat im schwierigen Kaffeemarkt Mexiko geglänzt.

Jean-Philippe Bertschy von Vontobel fühlt sich bei Freixe «mit seinem Skillset und seiner Strategie stark an Danone erinnert, wo Antoine de Saint-Affrique vor vier Jahren von Emmanuel Faber übernommen hat». Heisst: Marketingmann ersetzt erfolgreich Portfoliomanager; «Lindt & Sprüngli wäre mit Adalbert Lechner ein weiteres Beispiel», sagt Bertschy. Und «was Nestlé jetzt kurzfristig vor allem braucht, ist Stabilität». Also geeinte Truppen, Kerngeschäft, Kaffee und Tierfutter. Freixe.

In einigen Jahren könne das wieder anders aussehen, dann wäre «eine Phase der strategischen Überlegungen einzuleiten». Dann könnte es wieder «bold moves» à la Brabeck und Schneider brauchen. Aber vielleicht kann Freixe ja auch das – schliesslich wächst nicht nur die Leber mit ihren Aufgaben. Auch ein spät berufener CEO ist für Überraschungen gut. Das wäre eine interessante Pointe.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?
Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.