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Klima-Ikone Greta Thunberg schockte diese Woche ihre Anhänger. Auf Facebook schrieb sie, dass Atomenergie unter Umständen zu einem gesünderen Planeten beitragen könnte. BLICK berichtete als erstes Medium darüber, der Aufruhr war riesig.
Viele von Gretas Anhängern gehen gegen ebendiese Atomenergie auf die Strasse und fühlten sich verraten. Andere Beobachter meinten, dass Thunberg «endlich etwas Vernünftiges» gesagt habe. Am Ende musste die 16-Jährige ihren Beitrag anpassen und anfügen, persönlich gegen die Atom-Energie zu sein, auch wenn sie laut IPCC ein kleiner Teil einer sehr grossen neuen, kohlenstofffreien Energie-Lösung sein könnte.
Doch was ist die Realität? Wie wichtig ist Atomenergie? Wie sieht es in der Schweiz aus? BLICK beantwortet die wichtigsten Fragen
Was ist überhaupt Atomenergie?
Atomenergie wird in einem Atomkraftwerk hergestellt. Dafür werden in einem Kernreaktor Atomkerne gespalten. Dazu wird in der Regel Uran verwendet, ein radioaktives Schwermetall. Bei der Spaltung wird eine enorme Menge an Hitze freigesetzt, weshalb der Kernreaktor gekühlt werden muss. Dieses Kühlwasser wird durch die Hitze zu Dampf. Der Dampf treibt dann Turbinen an, die durch Generatoren Strom erzeugen.
Warum braucht es Atomenergie?
Unternehmen und Menschen sind darauf angewiesen, konstant Strom zu erhalten. Der Bund schätzte 2015 für die Schweiz als grösstes Risiko eine mehrmonatige Strom-Mangellage im Winter an. Schäden von über 100 Milliarden Franken seien zu erwarten, rechnete er vor. Ein solches Ereignis sei einmal alle 30 bis 100 Jahre zu erwarten. Am zweitgefährlichsten wäre demnach eine Pandemie (70 bis 80 Milliarden Franken Schaden, Eintrittswahrscheinlichkeit ebenfalls einmal in 30 bis 100 Jahren), dahinter rangiert eine Hitzewelle. Konstant Strom können derzeit nur fossile Energieträger wie Kohle oder eben Atomkraftwerke liefern. Allerdings sind fossile Brennstoffe mitverantwortlich für die Klimaerwärmung, ihr CO2-Austoss ist enorm. Demgegenüber ist Atomstrom praktisch emissionsfrei.
Was sind die Argumente der Atom-Befürworter?
Die Befürworter sagen, um den stetig steigenden Strombedarf zu decken (alleine in der Schweiz hat sich der Stromverbrauch seit 1950 mehr als verdreifacht), sei Nuklearenergie die effizienteste Möglichkeit. Das stimmt. Ein Beispiel: Mit einem Kilogramm Uran lassen sich etwa 350'000 Kilowattstunden Strom erzeugen. Ein Kilogramm Öl reicht für etwa zwölf Kilowattstunden. Gegner, darunter auch Greta Thunberg, argumentieren allerdings, dass ein steigender Strombedarf nicht zwingend sei, sondern lediglich das derzeitige Bedürfnis von Politik und Wirtschaft widerspiegelt. Sie verlangen einen Systemwechsel, nach dem auch die Atomenergie nicht mehr nötig wäre.
Ein weiterer Vorteil ist der Energieaufwand. Dieser liegt in einem Atomkraftwerk bei unter zehn Prozent der Menge Strom, die Kernkraftwerk in seiner Lebensdauer erzeugt. Die Kernenergie liegt damit in der Spitzengruppe der energieeffizienten Stromerzeugungs-Technologien, zusammen mit Wasser- und Windkraft, und weit vor der Stromerzeugung mit Solarzellen. Ein weiteres Argument ist der Preis. Je nachdem, wen man fragt, liegen die Produktionskosten von Atomstrom bei 4 bis 12 Rappen pro Kilowattstunde. Solarenergie kostet beispielsweise 40 bis 60 Rappen pro Kilowattstunde. Allerdings verschweigen die Atombefürworter, dass bei einer Vollkostenrechnung, die vom Uranabbau bis zur Wiederaufarbeitung, Endlagerung und zum Rückbau des Atomkraftwerks diverse Dinge berücksichtigen müsste, der Preis einiges höher werden würde. Zudem werden erneuerbare Energien dank technologischer Fortschritte und grösseren Anlagen in Zukunft eher günstiger werden.
Warum wollen die Gegner Atomstrom verbieten?
Die Kritiker führen vor allem Gesundheitsrisiken an, die durch Atomenergie entstehen. Durch die Spaltung der Atome wird nicht nur die gewünschte Energie, sondern auch radioaktive Strahlung erzeugt. Welche verheerenden Folgen dies haben kann, haben die US-Amerikaner im Zweiten Weltkrieg mit dem Abwurf von Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki bewiesen. Tausende Menschen starben direkt, Hunderttausende, auch nachfolgende Generationen, erkrankten in den Folgejahren an Krebs- und anderen Gesundheitsleiden.
Ähnliche Szenarios könnten sich wiederholen, wenn Unfälle in Atomreaktoren geschehen. Tschernobyl oder Fukushima werden deshalb von Atomgegnern immer wieder als mahnende Beispiele angefügt. Nüchtern betrachtet weist die Kernenergie allerdings verhältnismässig ähnlich tiefe Opferzahlen auf wie die Wasserkraft. Und die AKWs werden immer sicherer. Bei den neusten Reaktortypen ist eine Kernschmelze alle 500'000 Jahre zu erwarten, eine Verseuchung einer breiteren Umgebung etwa einmal alle 50 Millionen Jahre, sagte das Risk Center der ETH Zürich 2017.
Die Atomgegner sagen aber auch, dass es gar keinen Unfall geben muss, damit die Radioaktivität zu einem Problem wird. Im Jahr 2001 sorgte eine Studie vom Umweltinstitut München für Aufsehen, die erhöhte Krebsraten bei Kindern in der Umgebung von Atomkraftwerken nachwies. Ein weiteres Argument der Gegner ist die Aufbewahrung der radioaktiven Abfälle. Tatsächlich gibt es bis heute weder ein schlüssiges Entsorgungs-Konzept noch ein sicheres Endlager für Atommüll. Doch die Atomlobby ist zuversichtlich, dass sie dank neuer Technologien in absehbarer Zeit eine Lösung für die Endlagerung findet.
Wie ist die Situation in der Schweiz?
Der Energiebedarf in der Schweiz wird derzeit zu rund 40 Prozent mit Kernenergie gedeckt und zu 55 Prozent mit Wasserkraft. Kehrichtverbrennungsanlagen tragen rund 4 Prozent zur heimischen Stromproduktion bei. Andere erneuerbare Energien wie Photovoltaik und Windenergie spielen bislang mit einem Anteil von knapp einem Prozent eine vernachlässigbare Rolle. In der Schweiz gibt es derzeit 5 Atomkraftwerke: Beznau-1 und -2, Gösgen, Leibstadt, Mühleberg.
Das leistungsstärkste Kraftwerk ist dabei Leibstadt. Es erzeugt einen Sechstel des Schweizer Strombedarfs. Zum Vergleich: Es bräuchte rund 8500 Photovoltaikanlagen der Grösse des Stade de Suisse oder 2500 Windturbinen, um die Produktion des AKW Leibstadt zu erreichen. Neue AKWs dürfen derzeit hierzulande nicht gebaut werden.
Was sind die Pläne mit der Atomenergie in der Schweiz?
Bund und Parlament beschlossen im Jahr 2011 den schrittweisen Umbau der Schweizer Energieversorgung bis 2050 und damit den Ausstieg aus der Kernenergie. 2034 soll das letzte Atomkraftwerk vom Netz genommen werden. Im September 2013 verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zum ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050. Es sieht den subventionierten Ausbau der erneuerbaren Energien und eine Reduktion des Stromverbrauchs auf das Niveau von 1960 vor. Rund die Hälfte der nuklearen Produktion soll dann ersetzt werden. Dieses Massnahmenpaket ist 2016 vom Parlament und im Mai 2017 auch vom Volk gutgeheissen worden.
Ein zweites Massnahmenpaket mit Lenkungsmassnahmen für den Energieverbrauch und die weitere Senkung der CO2-Emissionen stiess bisher im Parlament auf Widerstand. Es ist aber auch möglich, dass das bisher geltende Verbot für den Bau neuer AKWs wieder aufgehoben wird. Wobei derzeit nicht absehbar ist, wer ein Neues bauen möchte. Die Schweiz muss in jedem Fall möglichst bald die Frage beantworten, wie sie die Produktionskapazität der ausfallenden AKWs ersetzen will. Ob der Stromausfall gänzlich durch erneuerbare Energien gedeckt werden kann und soll, ist bisher ungeklärt.
Fazit: Ist Atomstrom gut oder schlecht?
Weder noch. Die entscheidende Frage lautet: Ist die Produktion von Atomstrom, im Hinblick auf die Risiken, die die Nukleartechnik bietet, und für die Folgen, die sich daraus ergeben, verantwortbar oder nicht? Derzeit lautet die Antwort darauf: Ja, eindeutig. Nuklearenergie ist nebst Wasserkraft in der Schweiz die sinnvollste Methode, um Strom zu überzeugen. Atomstrom ist fast emissionsfrei und senkt damit im Vergleich mit fossilen Energieträgern den CO2-Level. Die Sicherheitsbedenken der Gegner sind zwar ernst zu nehmen, doch Unfallstatistiken belegen, dass die Sicherheitsbilanz sehr gut und deutlich besser als diejenige der fossilen Energieträger ist.
Doch sofern der Strombedarf weiterhin steigt, wovon trotz Gretas Bemühungen ausgegangen werden kann, kann Atomenergie nicht die Lösung sein. Die Menge an Uran ist endlich, in wenigen Jahrzehnten wird das Vorkommen erschöpft sein. Zudem gibt es viel zu wenige AKWs, um den Energiebedarf weltweit zu decken. Für die Zukunft muss daher das Credo lauten, auf die günstigeren erneuerbaren Energieträger wie den Wind, das Wasser oder die Sonne zu setzen. Da solche Technologien derzeit aber oft nur unzuverlässig funktionieren beziehungsweise zu wenig weit entwickelt sind, wäre es ratsam, die verschiedenen Energie-Formen parallel nebeneinander zu benutzen, bis die erneuerbaren Energieträger für 100 Prozent der Stromgewinnung aufkommen können.