BLICK: Herr Girsberger, Traditionsfirmen wie Rieter, Von Roll und Doetsch Grether bauen Jobs ab oder lagern ihre Produktion ins Ausland aus. Was läuft falsch auf dem Schweizer Werkplatz?
Michael Girsberger: Unser Industriestandort erlebt gerade einen Umbruch von grosser Tragweite. Was sich bei uns heute tatsächlich abspielt, zeigt noch keine Statistik. In der Realität gehen viel mehr Stellen verloren als bisher angenommen.
Woraus schliessen Sie das?
Als Geschäftsführer eines mittelständischen Fertigungsbetriebs stehe ich im Austausch mit Berufskollegen. Ich höre derzeit von vielen Firmen, die ganze Abteilungen ins Ausland verlagern wollen oder dies bereits tun.
Auch Sie haben Stellen abgebaut!
Aufgrund des Kostendrucks nach dem Mindestkurs-Aus von Mitte Januar mussten wir zehn Stellen von Bützberg in unsere deutsche Tochterfirma auslagern.
Sie fertigen teilweise noch in Handarbeit, gerade wurde die neue Bestuhlung im Stadttheater Basel installiert. Warum fertigen Sie nicht in China?
Wir könnten unsere Produktion problemlos ins europäische Ausland verlagern. Wir hätten dann entscheidende Kostenvorteile. Eine komplette Verlagerung nach China wäre bei uns nur für Bürositzmöbel möglich – aber ökologisch fragwürdig.
Die Credit Suisse sagt in einer neuen Studie, dass die Wirtschaftsaussichten in der Schweiz so rosig sind wie seit März 2014 nicht mehr. Was halten Sie davon?
Ich halte das für einen Trugschluss. Wenn ein Mittelstandsbetrieb zehn Mitarbeiter abbaut, erfährt es die Öffentlichkeit nicht. Wenn immer mehr Firmen zehn und mehr Stellen abbauen, dann fällt das in der Summe sehr wohl ins Gewicht. Ich fürchte, die Arbeitslosenzahlen ziehen mit Verzögerung deutlich an, die Sozialsysteme werden stärker belastet.
Selbst Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann sagt, dass die Schweizer Industrie mit einem blauen Auge davonkomme.
Ich wünschte, er hätte recht! Aber die Lage ist derzeit wesentlich gravierender als bisher angenommen. Einmal verlagerte Arbeitsplätze werden nicht wieder zurückkommen. Wir verlieren zunehmend Arbeitsplätze ans Ausland!
Täuscht der Eindruck, dass viele Fabriken gut ausgelastet sind?
Nein. Aber viele Firmen haben sich die gute Auslastung teuer erkauft. Sie mussten Euro-Rabatte gewähren und ihre Preise senken. Sie sind dazu gezwungen, um ihre Marktposition gegenüber den ausländischen Wettbewerbern zu behaupten.
Kann das auf die Dauer gut gehen?
Nein, die Rechnung geht nicht auf. Die Firmen produzieren zwar gleich viel, aber die Margen sind weg. Wenn dann noch die Aufträge einbrechen, wird kein Geld mehr verdient. Die Folgen: Investitionsstopp und Stellenabbau in der Schweiz und die Suche nach geeigneten Fertigungsstätten im Ausland.
Der Handlungsbedarf ist unbestritten. Wo würden Sie ansetzen?
Wir müssen noch erfinderischer werden und uns verstärkt auf Spezialgebiete und Marktnischen konzentrieren. Absolut vordringlich müssen wir aber in der Fertigung die Kostensätze senken.
Aber wie kommt das Geschäft wieder ins Lot?
Leider braucht es beides: Kostensenkung in der Schweiz und Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland. In manchen Fällen ist es unausweichlich, dass man Arbeiten verlagert. Zum Beispiel aufwendige Handarbeit, die sich nicht vereinfachen oder automatisieren lässt. So wird die Schweiz immer mehr zum Ort, wo entwickelt und gesteuert wird. Aber gefertigt wird im Ausland.
Eine gefährliche Entwicklung!
Ganz bestimmt, denn nicht alle Arbeitnehmer können ihr Talent am Schreibtisch oder mit dem PC zur Geltung bringen. Diese Leute müssen doch eine Arbeitsstelle haben, die ihren Begabungen entspricht. Und damit diese Arbeitsstellen nicht noch vermehrt ans Ausland verloren gehen, müssen die Kosten runter.
Was schlagen Sie vor?
Temporäre Lohnsenkungen um die fünf Prozent sollten kein Tabu mehr sein. Darunter liegende Lohnkürzungen wären nicht genügend wirksam. Als dringend notwendig erachte ich die 45-Stunden-Woche bei gleichem Lohn. Einige Firmen machen es schon vor. Wir führten die 44,5-Stunden-Woche 2011 ein.
Das kriegen Sie doch bei den Gewerkschaften nie durch.
Ausnahmen sind natürlich dort angezeigt, wo körperlich Schwerstarbeit geleistet wird oder wo es um höchste Konzentration und die Sicherheit geht. Bei Lohnkürzungen ist entscheidend, dass sie in einer schriftlichen Vereinbarung an die Geschäftsresultate geknüpft sind.
Reicht das tatsächlich, um die Büezer auf Ihre Seite zu kriegen?
Länger arbeiten, weniger verdienen – das muss auch für die Chefs gelten. Klar: Fünf Prozent weniger bei niedrigem Lohn sind schwerwiegender als fünf Prozent Einbusse bei hohem Einkommen. Umso mehr kann es nur gelingen, wenn die oberen Führungskräfte selbst vormachen, was sie verlangen – und zwar ohne sich Hintertürchen wie Leistungsboni oder Spesenvergütungen offen zu halten. Für die transparente und ehrliche Handhabung braucht es die Unterstützung und Kontrolle der Gewerkschaften.
Aber wie holen Sie die Gewerkschaften ins Boot?
Vertrauenspersonen der Gewerkschaften müssen uneingeschränkt Einblick in die Geschäftszahlen haben. Ist das Unternehmen wieder in besserer Verfassung, steigen die Margen wieder oder nimmt die Inflation zu, müssen die Reduktionen zurückgenommen werden.
In Genf wird bald gestreikt. Ist die Sozialpartnerschaft in Gefahr?
Nein, denn die Gewerkschaften können zur Erhöhung der Arbeitszeit und zu temporären Lohnkürzungen nicht generell Ja sagen. Firmenbezogen erwarte ich aber, dass sie mit gutem Willen gesprächsbereit sind. Wir brauchen dringend eine transparente und verstärkt wirtschaftlich agierende Sozialpartnerschaft: Die Gewerkschaften müssen mithelfen, dass die Kostensätze nachhaltig gesenkt werden können. Die Arbeitgeber müssen alles dafür tun, dass ihnen die Gewerkschaften vertrauen können.
Und Sie fordern keinen neuen Mindestkurs von der Nationalbank?
Nein. Ich appelliere vielmehr an die Sozialpartner, sich auf ein gemeinsames Ziel zu verpflichten: zu verhindern, dass die Schweiz noch mehr Industriearbeitsplätze ans Ausland verliert. Die soziale Marktwirtschaft kann man sich wünschen, möglich ist sie aber nur, wenn sie Gewinne macht.