BLICK: Hand aufs Herz, Herr Bolliger, haben Sie auch schon im grenznahen Gebiet eingekauft und von den tiefen deutschen Preisen profitiert?
Herbert Bolliger: Vor 25 Jahren haben wir eine Leder-Polstergruppe in Deutschland gekauft, seither nichts mehr. Ich gebe mein Geld dort aus, wo ich es verdiene.
Wie viele Arbeitsplätze hätte die Migros heute zusätzlich, wenn der Einkaufstourismus mit der Euro-Schwäche seit 2011 nicht massiv zugenommen hätte?
Weniger Umsatz heisst weniger Arbeitsplätze. Eine Milliarde Franken Umsatz entspricht rund 3300 Arbeitsplätzen in unserer arbeitsplatzintensiven Branche.
Wie viele Jobs hat der Abfluss von Kaufkraft im ganzen Schweizer Detailhandel vernichtet?
Wir gehen von über 30‘000 Arbeitsplätzen aus.
Letztes Jahr wurden am deutschen Zoll 17,6 Millionen Ausfuhrscheine abgestempelt – ein Rekord. Mit welchen Konsequenzen rechnen Sie, wenn das so weitergeht?
Besonders die Detailhandelsgeschäfte in den Grenzregionen werden weiter unter Druck kommen. Das hat letztlich auch Auswirkungen auf die Arbeitsplätze und Lehrstellen. Zudem verlieren Dörfer und Innenstädte an Attraktivität, wenn Läden schliessen. In gewissen Regionen wird bereits von einer Verödung der Innenstädte und Dorfkerne gesprochen. Hinzu kommt, dass der Detailhandel viel Geld in Läden, Infrastrukturen und Neubauten investiert. Davon profitieren viele KMU. Diese Investitionen gehen natürlich auch zurück.
Und die öffentliche Hand?
Verlierer ist auch der Bund. Ihm entgehen Mehrwertsteuer-Einnahmen von 500 bis 750 Millionen Franken pro Jahr. Er nimmt auch weniger Zölle und Abgaben ein. Ein Beispiel: Wer in der Migros importiertes Fleisch kauft, zahlt automatisch Zölle und Abgaben. Das ist der Preis des Agrarschutzes. Wer Fleisch innerhalb der Freimengen im Ausland einkauft, ist davon befreit.
Sind Einkaufstouristen Landesverräter?
Nein. Wir leben zum Glück in freien Verhältnissen, und es gibt auch bei uns viele Menschen, die knapp kalkulieren müssen. Trotzdem finde ich, dass wir die Folgen des Einkaufstourismus diskutieren und aus Gründen der Steuergerechtigkeit die politischen Rahmenbedingungen in der Schweiz anschauen sollten.
Auch die Migros bezieht gewisse Leistungen im Ausland. Verhält sie sich gleich wie Einkaufstouristen?
Es gibt kein anderes Unternehmen, das so sehr auf die Schweiz setzt, wie die Migros. Wir produzieren hier. Allein unsere Industriebetriebe beschäftigen hier 12'000 Mitarbeitende. Die Beispiele, bei denen die Migros auf Dienstleistungen im Ausland zurückgreift, sind ganz wenige.
Wie stark hat die Migros die Preise gesenkt in den letzten Jahren?
Seit 2010 um über 1,5 Milliarden Franken.
Dennoch bleiben Preisdifferenzen zum Ausland. Wie erklären Sie diese?
Die Preisunterschiede sind nicht zuletzt politisch gewollt. Wir schützen den Schweizer Agrarmarkt mit Zöllen und Abgaben gegen Importe. Zudem haben wir wesentlich bessere Löhne, auch Mieten, Transport- und Werbekosten sind höher als im Ausland.
Am stärksten stechen die Preisunterschiede bei Markenartikeln ins Auge.
Der Schweizer Detailhandel bezahlt für Markenprodukte deutlich höhere Einkaufspreise als die Händler im angrenzenden Ausland. Doch es gibt auch gute Botschaften. Die Migros hat seit 2011 die Verkaufspreise beispielsweise bei Kosmetikprodukten um über 100 Millionen Franken senken können, weil wir bessere Einkaufsbedingungen durchsetzen konnten.
Wer in Deutschland einkauft, kriegt die Mehrwertsteuer zurück. In der Schweiz zahlt man. Was lässt sich gegen diese Ungleichbehandlung tun?
Deutschland ist ein Sonderfall, weil es keine Bagatellgrenze kennt. Innerhalb der Freigrenze sind Einkäufe völlig von der Mehrwertsteuer befreit. Wir fordern deshalb, dass die Mehrwertsteuer entweder in Deutschland oder bei der Rückkehr in die Schweiz bezahlt werden muss. Das wäre gerecht gegenüber jenen Konsumentinnen und Konsumenten, die in der Schweiz einkaufen und hier Mehrwertsteuer bezahlen.
Wie stellt sich die Migros zur Initiative für faire Preise, welche die Marktmacht der Hersteller durchbrechen will?
Die Migros kämpft schon seit Jahren gegen den herrschenden Beschaffungszwang im Inland – ein Anliegen, das die Initianten aufgreifen. Wir wollen Konsumgüter direkt im Ausland beziehen können. Beim Elektronikmarkt funktioniert es, die Schweizer Händler sind deshalb konkurrenzfähig.