Ihr Buch heisst «Der betrogene Patient». Wer betrügt uns?
Gerd Reuther: Die Ärzte, die Medizintechnikfirmen, die Medikamentenanbieter, die ganze Gesundheitsbranche. Den Patienten werden Therapien angedreht, die sie nicht brauchen. Oft auch für Leiden, die nicht behandelt werden können.
Sie waren 30 Jahre als Radiologe tätig. Ihr Buch ist eine Abrechnung. Warum?
Ich wurde Arzt, weil ich helfen wollte. Ich dachte, in der Medizin seien 90 Prozent gut. Über die Jahre sah ich den Schaden, den Mediziner verursachen. Heute sage ich: 90 Prozent sind schlecht. Meine Möglichkeiten, etwas zu verbessern, sind in dem System aber begrenzt. Darum habe ich mit 55 aufgehört und das Buch geschrieben.
Wie ist es um die Medizin bestellt?
Nicht gut. Ärzte und ihre Fachgesellschaften erfinden neue Krankheiten, senken Schwellenwerte, verzögern das Sterben fast um jeden Preis. Nur eine von zehn Massnahmen basiert auf Evidenz. Neun von zehn dürften nach rationalen Kriterien gar nicht stattfinden. 90 Prozent der Gesundheitskosten sind damit sinnlos.
Das sind happige Vorwürfe.
Es sind Fakten. Ich habe keinen Anlass, meinen Berufsstand unnötig zu diskreditieren. Dann könnte man mich ja verklagen.
Sie werfen Ärzten Aktionismus vor.
Das geht bei der Diagnose los. Die Ärzte finden krankhafte Zustände bei symptomfreien Menschen. Und dann werden Behandlungsmethoden angewendet, von denen man nicht weiss, ob sie wirken. Oder die nachweislich nicht wirken. Abwarten gilt als unanständig. Und das Gesundheitssystem ist so konstruiert, dass man mit Abwarten weniger verdient.
Sind die Patienten auch selber schuld? Einem Arzt, der nur abwartet, trauen die meisten nicht.
Die Erwartung an die Medizin ist hoch, dafür kann der Patient aber nichts. Diese Haltung wird geschürt, auch in den Medien. Hier neue Behandlungsmethoden, dort ein medizinischer Durchbruch. Vor 100 Jahren war das anders. Diese Urangst vor dem Spital und den Ärzten war gesünder.
Es wäre gesünder, sich zu fürchten?
Wir müssen einfach zurückhaltender sein. Bei Autoreparaturen fragt man auch: Ist das nötig, oder will einer nur verdienen? Es gibt drei Gruppen Mediziner. Die Idealisten. Die Jungen, die alles Negative verdrängen. Und jene Gruppe, für die Patienten einfach eine Einnahmequelle sind.
Was sind die Folgen?
Jeder vierte Todesfall in Deutschland ist ärztlich bedingt oder mitbedingt, etwa durch Krankenhausinfektionen oder Operationsfolgen. Das ist von der Zahl her so, als würde jeden Tag eine volle A380 abstürzen.
Wie reagieren Mediziner auf die Kritik aus den eigenen Reihen?
Mich würde niemand mehr anstellen. Aber ich habe noch Freunde unter den Medizinern.
Worauf kann man hoffen?
Dass sich die Patienten informieren, ob es sinnvoll ist, sich behandeln zu lassen. Wenn die Leute kritisch sind, findet weniger Medizin statt, und umso weniger kann sie schaden. Die Reformfähigkeit der Medizin selber ist gering. Und politisch passiert, was die Lobbygruppen wollen.
Ist die Medizin korrumpiert?
In hohem Masse, die Verflechtung mit der Pharmaindustrie ist allgegenwärtig.
Ihr Buch lässt einen schaudern.
Ja, es ist kein Wohlfühlbuch.
Dr. med. Gerd Reuther war 30 Jahre als Radiologe tätig, bis er genug hatte und ausstieg. Er las 20'000 Seiten Fachliteratur und schrieb zwei Jahre an seinem Buch.Darin geht es um Lügen rund um die Gesundheit. Es stürmte die «Spiegel»-Bestsellerliste. Reuther sagt: «Wer den Ärzten rückhaltlos vertraut, schadet sich häufiger, als er sich nützt.»
Dr. med. Gerd Reuther war 30 Jahre als Radiologe tätig, bis er genug hatte und ausstieg. Er las 20'000 Seiten Fachliteratur und schrieb zwei Jahre an seinem Buch.Darin geht es um Lügen rund um die Gesundheit. Es stürmte die «Spiegel»-Bestsellerliste. Reuther sagt: «Wer den Ärzten rückhaltlos vertraut, schadet sich häufiger, als er sich nützt.»
Kennen Sie wenigstens einen guten Arztwitz?
Ein Chemiker und ein Mediziner sollen ein Telefonbuch auswendig lernen. Der Chemiker fragt: «Warum?» Der Mediziner fragt nur: «Bis wann?» Und genau darum geht es: In der Medizin wird zu wenig hinterfragt.