SonntagsBLICK: Herr Ridley, Ihr neustes Buch heisst «The Evolution of Everything», auf Deutsch so viel wie: «Die Entwicklung von Allem». Das klingt nach letzten Erkenntnissen des menschlichen Geistes, eigentlich wie das ultimative Buch, das jemand schreiben kann.
Matt Ridley: Es könnte in der Tat mein letztes Buch sein. Ich wollte damit aufzeigen, dass entgegen herkömmlicher Annahmen die grossen Würfe in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik oder Philosophie eben nicht von oben stammen, von den Eliten in diesen Bereichen, oder dass sie von diesen gesteuert werden. Das Gegenteil ist wahr: Die wichtigsten Errungenschaften der Menschheit entwickeln sich von unten nach oben. Und auf diesem Weg entsteht auch der Fortschritt, die Innovation.
Wie kamen Sie darauf?
Die Annahme, dass Planung und Kontrolle eine Gesellschaft voranbringen und Innovation fördern, ist einfach nicht haltbar. Und wir unterschätzen sträflich, dass selbst komplexe gesellschaftliche Veränderungen über die Interaktion von Individuen gesteuert werden.
Wenn sich Innovation nicht planen lässt: Wozu unterhalten führende Firmen dann grosse Abteilungen für Forschung und Entwicklung?
Innovation ist auch in grossen Firmen nicht grundsätzlich unmöglich. Es ist aber keineswegs so, dass der Chef sagen kann: Bring mir diese Innovation! Innovation ist ein archaischer, nicht planbarer Prozess, der nur stattfinden kann, wenn in einem Unternehmen der Austausch von Ideen frei zirkuliert. Daraus können neue Ideen emporwachsen – so entsteht ein Biotop an Innovation.
Das klingt nach fröhlichem Beisammensitzen und Brainstorming nach dem Motto: «Gut, haben wir darüber geredet!» Nach gängiger Vorstellung ist es aber ein Macher, der Bahnbrechendes neu erfindet. Wie der Amerikaner Thomas Edison, Erfinder der Glühlampe.
Mag sein. Vielleicht aber auch nicht. Was wir durch historische Recherchen sicher wissen: Das elektrische Licht wurde um 1870 erfunden. Bereits vor Edison tüftelten knapp zwei Dutzend Personen an verschiedenen Orten der Welt am Problem der Glühlampe herum. Auch Engländer, Franzosen oder Russen denken, dass einer der ihren das Licht erfunden hat.
Was folgern Sie daraus?
Es war einfach eine Idee, die zur Innovation reif war. Wenn Edison vor seinem Geistesblitz tot umgefallen wäre, hätte das Licht eben ein anderer erfunden. Das ist tröstlich und relativiert die alles überragende Wirkung der individuellen Erfinder-Persönlichkeit.
Sie würden also sagen, jemand wie Apple-Gründer Steve Jobs war keine singuläre erfinderische Persönlichkeit, sondern stand einfach zur richtigen Zeit mit der zeitgemässen Innovation im Kopf am richtigen Ort?
Ja, das würde ich so sehen. Es ist unmöglich, einen ganz eigenen, persönlichen Stempel auf eine Innovation zu drücken. Was nicht heisst, dass in Innovationen, die Steve Jobs zugewiesen werden, nicht auch ein Stück Individualität von ihm drin ist. Dessen ungeachtet gilt für die gesamte technologische Innovation in Silicon Valley: Sie funktioniert weitgehend von unten, von der Basis her.
Sie betätigen sich gerade als Mythen-Zertrümmerer.
Facebook, Amazon, Apple oder Google wären in ähnlicher Form erfunden worden, wenn keiner der uns heute bekannten Gründer geboren worden wäre. Gleichzeitig glorifiziert diese Industrie ihre Gründer wie keine andere. Das ist nicht einmal ein Widerspruch.
Wie meinen Sie das jetzt?
Amazon-Gründer Jeff Bezos hat in seiner Firma das «Reverse Veto» eingeführt, um Ideen von unten nach oben schwimmen zu lassen. Das heisst: Solange auch nur eine Person zu einer Innovation Ja sagt, kann diese weiterverfolgt werden.
Was macht den innovationsfördernden CEO aus?
Ich bin kein Management-Berater. Aber wer akzeptiert, dass Innovation von unten kommen muss, kann zumindest folgendes festhalten: Mitarbeiter müssen auf allen Stufen ihre eigenen Ideen entwickeln können. Sie müssen vertikal und horizontal quer durch alle Hierarchiestufen frei und unbürokratisch sich austauschen und untereinander interagieren können. Alle müssen sich von der Vorstellung befreien, dass wichtige Entscheidungen nur von den CEO gefällt werden. Ein guter CEO ist sich umgekehrt bewusst, dass er als Dirigent ein Orchester von Individualisten zu leiten hat.
Wo lernt das der CEO? Indem er Ihre Bücher liest?
Ich glaube nicht. Aber ich erwähne immerhin das Beispiel einer Firma, die über ein, sagen wir bemerkenswertes sozialistisches Potential verfügt. Der Erfolg basiert auf einem freiheitlich-libertären Organisationsansatz. Das Unternehmen heisst Morning Star Tomatoes mit Sitz in Kalifornien. Die Firma besitzt kein kontrollierendes Management, keinen CEO, keine Hierarchiestufen. Die Saläre werden in den Teams diskutiert und dort festgelegt. Die Mitarbeiter sind dazu angehalten, sich selber zu organisieren, die Innovation selbständig voranzutreiben und sich bei Investitionen mit Experten auszutauschen.
Und das funktioniert?
Es funktioniert, weil Managementstrukturen total dezentralisiert sind. Der geschäftliche Erfolg gibt ihnen Recht. Die Frage ist nur: wieso findet dieses Modell keine Nachahmer?
Ihre Antwort?
Das grosse Problem ist: wie kommen Sie von einer konventionellen Firmenstruktur, die traditionellerweise existiert zu diesem neuen libertären Ansatz? Es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit einem mittleren Kader zu sagen, ab heute musst Du Deinen Lohn und Boni mit Deinen Kollegen diskutieren und gemeinsam absegnen lassen. Das ist schwierig zu erreichen.
Matt Ridley sitzt für die Konservativen im House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments. Am 8. Dezember tritt er bei World.Minds auf, einem Forum für Exponenten von Wissenschaft und Wirtschaft. Gründer des Symposiums ist der Schweizer Unternehmer und Schriftsteller Rolf Dobelli.
Matt Ridley sitzt für die Konservativen im House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments. Am 8. Dezember tritt er bei World.Minds auf, einem Forum für Exponenten von Wissenschaft und Wirtschaft. Gründer des Symposiums ist der Schweizer Unternehmer und Schriftsteller Rolf Dobelli.