Martin Neff (63) steht am Fenster im mondänen Sitz von Raiffeisen am Flughafen Zürich. Der Blick schweift in die Ferne. «Neff auf dem Abflug», witzelt der Ökonom. In ein paar Tagen geht er in Rente, aber nicht in den Ruhestand.
Hinter ihm liegt eine schillernde Karriere als Chefökonom bei der Credit Suisse und Raiffeisen, vor ihm ein Abenteuer als Jungunternehmer. Er möchte mit dem Startup Lokavor nochmals durchstarten. Bleibt sich dabei selber treu. Er investiert sein Geld und seine Zeit nicht in ein hochtrabendes Finanzvehikel, sondern in eine Plattform, die lokale Lebensmittelhändler und Produzenten mit Kunden zusammenbringt.
Neff ist ein Mann der einfachen Worte: «Ich wollte immer mein Wissen und meine Expertise in einer Form weitergeben, dass mich auch breite Bevölkerungskreise verstehen.» So hat er sich mit seinem Schweizerdeutsch mit badischem Einschlag in die Herzen der Schweizer prognostiziert.
Früher Auswanderer
Bei seinen zahlreichen Auftritten im Dienste seiner Banken hat Neff immer auch den Austausch mit den Kunden sehr geschätzt. Ihm lagen die Normalbürger bei Raiffeisen noch etwas mehr am Herzen als die «etwas abgehobene Klientel im Private Banking bei der CS». Diesen Dialog werde er nun schon etwas vermissen.
Aufgewachsen ist Neff in Konstanz (D). Er zieht schon mit 17 Jahren von zu Hause aus – über den Rhein nach Kreuzlingen TG – und mit seiner Freundin zusammen, wie er mit einem Augenzwinkern anmerkt. Nach dem Studium landet er beim Baumeisterverband, eignet sich dort sein profundes Wissen über den Immobilienmarkt an. 1992 wechselt Neff zur damaligen SKA, wo seine Expertise dringend gefragt ist. Denn die Schweiz liegt in der schlimmsten Immobilienkrise seit Jahrzehnten darnieder, das Land fällt in eine tiefe Rezession.
«Das war sozusagen die Subprime-Krise der Schweiz», erinnert sich Neff. «Kredite wurden im Blindflug vergeben, der Markt war völlig intransparent. Die SKA brauchte dringend jemanden, der etwas vom Bauen verstand.»
Als der Rossschwanz auf der Kippe stand
Neffs Markenzeichen sind seine pointierten Analysen, sein stechender Blick und seine für einen Banker unüblich langen Haare. «Ich war ein Hippie und bin mit einem Citroën 2CV durch die Gegend gekurvt.» Er sieht sich in der Bank weniger als Revoluzzer, eher als Trendsetter: «In der volkswirtschaftlichen Abteilung, im Research, waren die Kleidervorschriften schon damals nicht so strikt – und welcher Banker trägt heute noch Krawatte?»
Nur einmal musste er beinahe Haare lassen. Es war in der Zeit, als Neff seine Haare zu einem Rossschwanz zusammengebunden hatte. «Der einzige, der mich je darauf angesprochen hat, war Rainer E. Gut. Das war Mitte der 1990er-Jahre.» Der Übervater der CS drohte dem Ökonomen allerdings nur indirekt: «Er habe mal einen Portier mit so einem Rossschwanz gehabt, diesen habe er ihm einfach abgeschnitten.»
Doch die Haare bleiben lang, Neff kann seine Karriere bei der CS fortsetzen. Das Ende seiner ehemaligen Arbeitgeberin stimmt ihn wehmütig: «Das ist emotional keine einfache Situation, ich kenne noch viele Leute, die dort arbeiten, seriös sind, einen guten Job machen. Und die vor allem nicht ‹unverschämt› viel Geld verdienen. Das ist ein sehr trauriges Kapitel der Schweizer Finanzgeschichte.» Aber die Marke habe in den letzten Jahren so viel an Wert verloren, da gab es nicht mehr viel zu retten.
Vom Regen in die Traufe
Neff kritisiert die hohen Boni, von denen er einst selbst profitiert hat, die aber schon lange in keinem Verhältnis zum Ertrag mehr standen: «Die Bank wurde immer mehr zu einem Selbstbedienungsladen und stellte sich immer weniger in den Dienst der Kunden – wie es eigentlich sein sollte.»
Seine badische Bodenständigkeit hilft ihm, als er vor 10 Jahren von der CS zu Raiffeisen wechselt: «Das war für mich kein Kulturschock.» Etwas anderes habe ihn viel mehr irritiert: «Ich kam aus einer Bank, deren Image schon damals recht ramponiert war. Und bin in einer Bank gelandet, die ein Top-Image hatte. Bis dieses durch die ‹Eskapaden› von Pierin Vincenz (67) auch mit einem Negativimage belegt wurde.»
Für die selbsternannten Stars der Bankenwelt und seiner eigenen Zunft hat Neff naturgemäss wenig übrig. «Es gibt schon einige sehr selbstverliebte Chefökonomen oder Chefanalytiker – dabei kochen wir alle nur mit Wasser.»
Und liegen auch falsch: «Ich bin sehr oft daneben gelegen. So habe ich etwa die Folgen der Subprime-Krise arg unterschätzt», gesteht Neff selbstkritisch. Weder habe er deren Sprengkraft richtig eingeschätzt, noch die weltweite Rezession im Nachgang vorhergesehen.
Paritäts-Prophet
Es gab aber auch zwei Volltreffer in seiner langen Prognostiker-Karriere: Die Euro-Franken-Parität und das Ende der Inflation im Jahr 1998. Damals glaubten alle, die Teuerung würde weiter ansteigen, einzig Neff hielt dagegen – und behielt recht. «Das war für mich meine beste Prognose überhaupt. Geholfen hat dabei, dass die Weltwirtschaft damals über Jahre von einer Krise in die nächste taumelte, es also keinen Grund für einen Wachstumsschub und steigende Preise gab.
Im Juli 2019 verkündete Neff im Sonntagsblick: «Die Parität kommt.» – und hatte auch damit recht. Damals kostete ein Euro noch 1.10 Franken, heute gibt es ihn für gerade mal noch 95 Rappen.
Nun ist die Zeit für die letzte Prognose gekommen – und das grösste Problem der Weltwirtschaft: «Global sind die Schulden viel zu hoch, seit der Finanzkrise kommen wir nicht mehr aus diesem Teufelskreis raus, mit immer neuen Schulden die Konjunktur zu stützen und die Konsumenten bei Laune zu halten.» Das diene aber hauptsächlich der Wiederwahl von Politikern – und nicht der Wirtschaft.
Krach im Keller
Mit einer löblichen Ausnahme: die Schweiz. «Die Schweiz hat vieles sehr viel besser gemacht als die meisten anderen Länder.» Die Schulden seien auch nach Corona nicht aus dem Ruder gelaufen und der starke Franken zwinge unsere Industrie, ständig an ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten. Die Weltwirtschaft taumelt richtig Rezession, doch die Schweiz wird auch in diesem Jahr wachsen: mit rund 0,5 Prozent, glaubt Neff.
Hoffen wir, er hat damit recht. Neff legt nun den Prognosestift beiseite und wird nur noch im Übungskeller lärmen: Mit einer E-Gitarre in der Hand. Nicht, um die nächste grosse Bühne zu betreten, sondern einfach zum Spass.