Es war eine Odyssee, die BLICK-Leserin B. K.* in den letzten beiden Dezemberwochen durchlebte. Dabei war die 35-Jährige Schweizerin lediglich auf der Suche nach einem Medikament, dem morphiumhaltigen Schmerzmittel Oxynorm als Lösung zum Einnehmen. Bei ihrem Hausarzt war es ausgegangen, ebenso bei den Apotheken rund um ihren Wohnort im Zürcher Oberland nicht erhältlich. K.s Vorrat des Schmerzmittels, das sie seit 15 Jahren täglich einnehmen muss, drohte auszugehen.
«Ich habe in dieser Zeit noch nie erlebt, dass mein Medikament nicht erhältlich war», sagt K. Sie habe ein paar Apotheken in Zürich angerufen – auch hier Fehlanzeige. Die Lager waren leer. Durch Zufall wurde K. bei einer Apotheke in Olten SO noch rechtzeitig fündig. Das war in der ersten Januarwoche.
Kein Einzelfall. Im Berner Oberland führt der Spitalapotheker Enea Martinelli (53) seit Jahren akribisch Buch über Lieferengpässe bei Medikamenten in der Schweiz und publiziert diese auf einer eigenen Internetseite. Standen auf seiner Liste Anfang 2018 noch rund 200 Medikamente, die vorübergehend in der Schweiz nicht lieferbar waren, sind es Ende Jahr bereits über 500 – mehr als doppelt so viele wie zu Jahresbeginn: «Das ist ein ernsthaftes Problem», sagt Martinelli, der für die Spitalgruppe Frutigen, Meiringen, Interlaken arbeitet. «Die Situation hat sich 2018 dramatisch verschärft.» So viele nicht lieferbare Medikamente gab es in der Schweiz noch nie!
Lage wird sich nicht entschärfen
Auch der Bund führt Buch über Medikamenten-Engpässe. Die Liste des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) ist zwar einiges kürzer, weil dort nur Medikamente draufstehen, die lebenswichtig sind. Und folglich ein grosses Problem darstellen, sollten sie knapp werden. Dazu gehören Antibiotika, Chemotherapien, Impfstoffe und starke Schmerzmittel.
Auch beim BWL war 2018 ein Rekordjahr. «Die Meldestelle des BWL war 2018 grob geschätzt mit rund 25 Prozent mehr Meldungen konfrontiert als im Vorjahr», sagt Ueli Haudenschild (60) vom BWL. «Seit Einführung der Meldepflicht ist das sicher ein Rekord.» Haudenschild erwartet, dass sich die Lage auch in diesem Jahr nicht entschärfen wird.
Das Problem: Die Medikamenten-Herstellung ist längst globalisiert. «Viele Wirkstoffe werden nur noch in einigen wenigen Werken in Indien oder China produziert. Das ist ein Klumpenrisiko für die gesamte Branche», erklärt Spitalapotheker Martinelli. Ein Zwischenfall in einem dieser fernen Produktionswerke ist in der Folge bis in die Schweiz spürbar: «Eine Pharmafabrik baut sich nicht von heute auf morgen. Wenn – wie letztes Jahr geschehen – ein Werk in China explodiert, dann dauert es Jahre, bis diese Kapazitäten wieder aufgebaut sind», so Martinelli.
Chronisch Kranke vor allem betroffen
Interpharma, der Dachverband der Pharmabranche, spielt das Problem herunter: «Viele Lieferengpässe sind zwar ärgerlich, aber unproblematisch», schreibt der Verband auf Anfrage.
Eine Patientengruppe ist von den Engpässen besonders betroffen: «Vor allem für chronisch Kranke sind die Lieferengpässe ein grosses Problem. Einen Patienten auf ein neues Medikament oder eine andere Dosierung einzustellen, ist sehr aufwendig.»
Aktuell umfasst die Liste mit Lieferengpässen 532 nicht lieferbare Medikamente. Darunter: Depakine, das bei epileptischen Anfällen hilft – oder Sinemet für Parkinson-Patienten. Und: Syntocinon, das bei der Einleitung der Geburtswehen hilft. Ersatz dafür gibt es, nur kostet dieser 50-mal mehr als das Medikament, das derzeit nicht lieferbar ist.
Noch ist die Situation bei den Medikamenten-Engpässen in der Schweiz nicht bedrohlich. Sie ist aber mit viel Zusatzaufwand und Kosten für Patienten, Ärzte und Apotheker verbunden.
* Name von der Redaktion geändert