Leuthards Liberalisierung bringt Wettbewerb
Stromer bald so aggressiv wie Krankenkassen

Mit der vollen Liberalisierung des Strommarkts sollen auch private Haushalte ihren Anbieter wählen können. Die Folgen: Auch in dieser Branche schlägt die Stunde der Makler. Und die Umwelt könnte bös unter die Räder kommen.
Publiziert: 07.11.2018 um 10:41 Uhr
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Aktualisiert: 08.11.2018 um 13:36 Uhr
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Künftig könnte auch Billigstrom aus dem Ausland bezogen werden,so wie aus dem deutschen Braunkohlekraftwerk Boxberg.
Foto: KEYSTONE
Konrad Staehelin

Es ist wieder Wechselsaison für die Grundversicherung. Die Krankenkassen blechen in diesen Monaten wieder Millionen für Plakatwerbung, Inserate und Provisions-getriebene Berater. Vergleichsportale à la Comparis oder Dschungelkompass haben die beste Zeit im Jahr. 

Möglicherweise gibts bald noch mehr Wechsel-Stress! 

Mitte Oktober hat der Bundesrat seine Idee für den zweiten Schritt der Strommarkt-Liberalisierung vorgestellt. Kommt sie so durch, blüht der Schweiz auch hier ein Tohuwabohu wie mit den Krankenkassen. Und noch viel grössere Fragen.

Magische Grenze 100'000 kWh

Darum gehts: Bis 2009 waren alle in der Schweiz, Haushalte und Firmen egal welcher Grösse, im Monopol ihrer jeweiligen Stromversorger gefangen. Diese durften den Verbrauchern die sogenannten Gestehungskosten für Produktion und Netznutzung, unabhängig vom aktuellen Marktpreis, verrechnen.

Dann erlaubte die Politik in einem ersten Schritt zumindest Grossverbrauchern mit über 100'000 Kilowattstunden (kWh) Konsum im Jahr, den Strom direkt am Markt zu kaufen. Dort liegt der Preis im Moment deutlich unter den Gestehungskosten. 

Das freut grössere Firmen und Stromversorger im Besitz von Gemeinden. Sie machen nur ein Prozent der Stromkunden aus, verbrauchen aber über die Hälfte aller Energie. Das Durchschnitts-KMU dagegen muss immer noch den hohen Monopol-Preis zahlen, weil es die 100'000-kWh-Schwelle nicht erreicht. Der Normalo-Haushalt mit seinen 4500 kWh Verbrauch im Jahr hat sowieso keine Wahl.

«Anbieter bemühen sich um Kunden»

«Genau für diese Stromkunden ist Wettbewerb überfällig», klagt Sara Stalder (52), Geschäftsleiterin bei der Stiftung für Konsumentenschutz. Sie erhofft sich dadurch sinkende Preise. Damit steht sie ziemlich alleine da.

«Die Preise werden nicht sinken, dafür aber werden die Telefone klingeln wegen irgendwelcher Firmen, die angeblich billigen Strom verkaufen wollen», schreibt Dore Heim (59) vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB). «Mehr Belästigung ohne Vorteile, darauf läuft es hinaus.»

Einmal im Jahr soll man wechseln dürfen. «Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich die Anbieter stark um ihre Kunden bemühen, sobald ein Monopol aufgeht», sagt Michael Frank (55), Direktor des Verbands Schweizerischer Energieunternehmen (VSE). «Das war in der Schweiz in der Telekom-Branche so, in Deutschland war es beim Strom genauso.» Es sei dann auch denkbar, dass deutsche Konzerne eine Schweizer Tochter gründeten und hier um Kunden buhlten.

Diese würde dann vielleicht ihren deutschen Billig-Strom in die Schweizer Haushalte verkaufen. Doch Achtung: Der Preis für die Energieherstellung selbst macht sowieso nur einen kleinen Teil an der Rechnung aus, im Schweizer Schnitt nämlich 38 Prozent. Der Rest sind Netz-Gebühren und Abgaben an die Gemeinde und für die Energiewende.

Darum glaubt auch Noch-Bundesrätin Doris Leuthard (55), deren Bundesamt für Energie (BFE) die «Revision des Stromversorgungsgesetzes» ausgeheckt hat, nicht an eine Preissenkung.

Leuthards Paragrafen-Päckli

Ihr sind andere Dinge wichtig. Rund um das Herzstück, nämlich die freie Anbieterwahl für Haushalte, hat sie ein ganzes Paragrafen-Päckli geschnürt.

Zum Beispiel will Leuthard die lokale Stromproduktion fördern. Die Tarife für die Netznutzung sollen so angepasst werden, dass es unattraktiv ist, den Strom von weit weg herzuleiten. Oder: Über die Effizienz der Verteilnetzbetreiber soll Transparenz herrschen.

Eine weitere Hoffnung von Leuthard ist Innovation durch Konkurrenz. Wer zum Beispiel 100 Prozent Solarstrom aus der Region will, soll ihn kriegen können, wenn er genug dafür zahlt.

Dieses ganze Paragrafen-Päckli ist jetzt in der Vernehmlassung. Bis Ende Januar können Parteien, Verbände und andere Interessenvertreter dem BFE ihre Meinung mitteilen. BLICK hat sich jetzt schon bei ihnen umgehört und zeigt die dringendsten Diskussionspunkte.

Tenor: Für den zweiten Liberalisierungsschritt an sich sind fast alle. Aber voll zufrieden mit Leuthards Vorschlag ist doch niemand. Sie wird sich nicht mehr damit herumschlagen müssen. Am 31. Dezember tritt sie ab.

Blutet die Umwelt, wenn die Verbraucher jubeln?

In einem liberalisierten Markt wählen viele Kunden das für sie günstigste Angebot – und das ist oft nicht umweltverträglich. Konkret: Aktuell ist ausländischer Dreckstrom aus Kohle und Gas am Markt deutlich günstiger als Schweizer Wasserkraft- oder Solarenergie. 

«Ein Teil der Konsumenten würde bestimmt auf Dreckstrom umsteigen», befürchtet Felix Nipkow (40) von der Schweizerischen Energiestiftung (SES). In der Bundesrats-Vorlage ist nicht vorgesehen, dies zum Beispiel mit einer Importabgabe für Dreckstrom zu unterbinden. «Wenn man den Markt öffnet, muss man Konsumentensouveränität akzeptieren, auch dann, wenn nicht alle grün sein wollen», sagt Henrique Schneider (41), stellvertretender Direktor beim Schweizerischen Gewerbeverband. Es werde aber auch das Gegenteil geben: «Klimabewusste Produkte werden neue Chancen haben und ein viel grösseres Zielpublikum erreichen.»

Allerdings steigt der Grossmarktpreis gerade wieder stark an. Bis die Liberalisierung durch alle politischen Mühlen ist, wird es wohl 2023 sein. Dann dürfte der Preis über den Gestehungskosten liegen. Damit die Konsumenten dann nicht bluten, hat der Bundesrat ein Hintertürli offen gelassen: Er schlägt vor, dass die Konsumenten weiterhin in der Grundversorgung bleiben dürfen. Dort wären die Tarife reguliert. Zudem soll der Strom zwingend aus der Schweiz stammen, mindestens die Hälfte soll aus erneuerbaren Energien kommen. 

In einem liberalisierten Markt wählen viele Kunden das für sie günstigste Angebot – und das ist oft nicht umweltverträglich. Konkret: Aktuell ist ausländischer Dreckstrom aus Kohle und Gas am Markt deutlich günstiger als Schweizer Wasserkraft- oder Solarenergie. 

«Ein Teil der Konsumenten würde bestimmt auf Dreckstrom umsteigen», befürchtet Felix Nipkow (40) von der Schweizerischen Energiestiftung (SES). In der Bundesrats-Vorlage ist nicht vorgesehen, dies zum Beispiel mit einer Importabgabe für Dreckstrom zu unterbinden. «Wenn man den Markt öffnet, muss man Konsumentensouveränität akzeptieren, auch dann, wenn nicht alle grün sein wollen», sagt Henrique Schneider (41), stellvertretender Direktor beim Schweizerischen Gewerbeverband. Es werde aber auch das Gegenteil geben: «Klimabewusste Produkte werden neue Chancen haben und ein viel grösseres Zielpublikum erreichen.»

Allerdings steigt der Grossmarktpreis gerade wieder stark an. Bis die Liberalisierung durch alle politischen Mühlen ist, wird es wohl 2023 sein. Dann dürfte der Preis über den Gestehungskosten liegen. Damit die Konsumenten dann nicht bluten, hat der Bundesrat ein Hintertürli offen gelassen: Er schlägt vor, dass die Konsumenten weiterhin in der Grundversorgung bleiben dürfen. Dort wären die Tarife reguliert. Zudem soll der Strom zwingend aus der Schweiz stammen, mindestens die Hälfte soll aus erneuerbaren Energien kommen. 

Produziert die Schweiz noch genug Strom für sich selbst?

Heute können die meisten Stromunternehmen einen Teil ihrer Energie zu Gestehungskosten plus einem kleinen Aufpreis an die Konsumenten verkaufen. Das setzt Anreize für Investitionen in neue Wasserkraftwerke oder Sanierungen. Sollte das wegfallen, würde wohl keiner mehr investieren – ausser der Strompreis schösse durch die Decke. «Mit dem Wegfallen der AKW in den nächsten Jahren ist die Schweiz aber auf Investitionen in Kraftwerke angewiesen, damit die hohe Versorgungssicherheit erhalten bleibt», sagt Nipkow von der SES.

Leuthard meint, dass die Schweiz auf Jahre hinaus genug Produktions-Kapazitäten für sich selbst besitzt. Es stünden auch nach der AKW-Stilllegung 16,5 Gigawatt Leistung zur Verfügung – der Bedarf liege dagegen nur bei 11 Gigawatt. «Es geht aber nicht nur um Leistung zu einem Zeitpunkt. Der Strom muss das ganze Jahr über verfügbar sein», kritisiert VSE-Direktor Frank. Darum will Leuthard eine kleine Rücklage bilden: Betreiber von Speicherseen, Kehrichtverbrennungs-Anlagen oder Batterien sollen Geld dafür erhalten, Strom für den Notfall bereitzuhalten.

«Das halten wir für kritisch», schreibt jedoch zum Beispiel eine Sprecherin der BKW. Ein Sprecher des Bündner Konzerns Repower schreibt, dass gewisse Projekte gezielt gefördert werden müssten. «Oder aber der Markt muss so gestaltet sein, dass die Preise eine solche Grossinvestition zulassen.»

Heute können die meisten Stromunternehmen einen Teil ihrer Energie zu Gestehungskosten plus einem kleinen Aufpreis an die Konsumenten verkaufen. Das setzt Anreize für Investitionen in neue Wasserkraftwerke oder Sanierungen. Sollte das wegfallen, würde wohl keiner mehr investieren – ausser der Strompreis schösse durch die Decke. «Mit dem Wegfallen der AKW in den nächsten Jahren ist die Schweiz aber auf Investitionen in Kraftwerke angewiesen, damit die hohe Versorgungssicherheit erhalten bleibt», sagt Nipkow von der SES.

Leuthard meint, dass die Schweiz auf Jahre hinaus genug Produktions-Kapazitäten für sich selbst besitzt. Es stünden auch nach der AKW-Stilllegung 16,5 Gigawatt Leistung zur Verfügung – der Bedarf liege dagegen nur bei 11 Gigawatt. «Es geht aber nicht nur um Leistung zu einem Zeitpunkt. Der Strom muss das ganze Jahr über verfügbar sein», kritisiert VSE-Direktor Frank. Darum will Leuthard eine kleine Rücklage bilden: Betreiber von Speicherseen, Kehrichtverbrennungs-Anlagen oder Batterien sollen Geld dafür erhalten, Strom für den Notfall bereitzuhalten.

«Das halten wir für kritisch», schreibt jedoch zum Beispiel eine Sprecherin der BKW. Ein Sprecher des Bündner Konzerns Repower schreibt, dass gewisse Projekte gezielt gefördert werden müssten. «Oder aber der Markt muss so gestaltet sein, dass die Preise eine solche Grossinvestition zulassen.»

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