Leere Läden an der Promenade, kein Nachtleben mehr
Wie das WEF Davos kaputt macht

Wohnungsnot, Ausziehklauseln, Gewerbe und Nachtleben im Niedergang: Davos ächzt unter dem WEF. Eine Reportage aus dem Bergdorf.
Publiziert: 00:15 Uhr
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Aktualisiert: 14:20 Uhr
Polizisten an der Promenade am WEF 2024: Das Wirtschaftstreffen nimmt Davos immer drastischer in Beschlag.
Foto: Keystone

Auf einen Blick

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Carmen Schirm
Handelszeitung

Davos, kurz vor dem WEF. Ein Lastwagen nach dem anderen rumpelt durch die Stadt, Baukräne allerorts, Hektik an allen Ecken und Enden – von Bündner Beschaulichkeit keine Spur. Es muss schnell gehen. Die Temporärbauten für WEF-Gäste, die dort ihre Kunden und Kundinnen empfangen, müssen in höchstmöglicher Geschwindigkeit hochgezogen werden. Ganze Häuserzeilen werden mit neuen Fassaden ummantelt (die nach dem WEF wieder abgebaut werden). 

Es ist die teuerste «Gewerbeausstellung» der Welt. Wer sagen kann, am WEF präsent zu sein, gilt etwas. Das Technologieunternehmen Meta, besser bekannt als Facebook, liess vergangenes Jahr einen dreistöckigen Palast aus Holz bauen. Es ist ein Wettkampf: höher, exklusiver und teurer. Unternehmen bezahlen enorme Geldbeträge für temporäre Bauprojekte, die von mehreren Hunderttausenden bis zu Millionen Franken reichen können. Und es werden immer mehr dieser Temporärbauten. 2019 wurden 130 temporäre Bauprojekte gezählt. Für das WEF dieses Jahr wurden beim Davoser Hochbauamt 166 Baugesuche eingereicht. 

In Temporärbauten, die gleich nach der Veranstaltung abgebaut werden, empfangen WEF-Teilnehmer ihr Kunden.
Foto: EPA

Touristen und Touristinnen indes fühlen sich gestört. Logisch. Wer zur teuersten Zeit des Jahres anreist, um sich dann auf einer Grossbaustelle wiederzufinden, ist verärgert. Deshalb dürfen die Bauarbeiten neuerdings erst ab Neujahr beginnen. Sonst drohen hohe Bussen. 

«Davos kann gar nicht so viele Limousinen schlucken»

Davos drei Wochen später. Das WEF beginnt. Jubel, Glanz und Glamour. Mehr als 3000 Besucherinnen und Besucher aus aller Welt werden anreisen: Wirtschaftsexpertinnen, Regierungschefs, Unternehmerinnen, Intellektuelle und Medienschaffende. Davos wird zum Nabel der Welt. Es gibt kaum eine andere Grossveranstaltung, über die derart global berichtet wird. Die Strassen werden wie immer heillos verstopft sein.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

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«Ein Dorf wie Davos kann gar nicht so viele Limousinen schlucken», sagt Tamara Henderson, Präsidentin des Davoser Hoteliervereins. Selbst wenn sie nur schnell zu Fuss irgendwohin wolle, könne es bis zu anderthalb Stunden dauern. Sie sagt direkt, was viele denken: «Das WEF ist an einem Limit der Teilnehmendenzahl angekommen.»

Limousinen über Limousinen, ein Durchkommen ist kaum mehr möglich.
Foto: LightRocket via Getty Images

Einheimische boykottieren Restaurants

Kulinarik? Tote Hose. Vom Postplatz bis zum Kongresshaus machen die Restaurants dicht. Zumindest für die Öffentlichkeit. Indische Küchenbrigaden, die eigens eingeflogen werden, bedienen indische WEF-Gäste. Das mache die Einheimischen zunehmend sauer, sagt eine betroffene Person hinter vorgehaltener Hand. Viele boykottieren im Anschluss die Restaurants, oft bis zu einem Vierteljahr lang. 

Shopping? Ebenfalls Fehlanzeige. Noble Marken wie Bogner, Bucherer oder Jet Set haben Davos bereits den Rücken gekehrt. Sie generierten zu wenig Umsatz unter dem Jahr. Entlang der Promenade finden sich zahlreiche Läden, die leer geräumt sind. «Das ist schade und ärgerlich», sagt Tamara Henderson. «Unsere Gäste würden gerne unter dem Jahr shoppen.» Aber man könne die Ladenbesitzer nun mal nicht dazu zwingen, geöffnet zu haben. Auch viele Galerien gibt es, ohne Personal, mit ein paar Bildern hinter der Glasscheibe und einer Telefonnummer. «Die Hauptachse wird immer unattraktiver, je mehr Läden leer stehen und nicht betrieben werden», sagt Joshua Wada, Präsident des Mieterinnen- und Mieterverbandes Graubünden (siehe Box). Zumindest seien die Galerien nicht ganz leer. 

Manch eines dieser Lokale gehört Unterländern, wie die Einheimischen die Nicht-Davoser nennen. Diese wenig geliebten Unterländer haben vielleicht vor langer Zeit mal von einer Grosstante in Davos ein Haus geerbt und es WEF-gerecht umgebaut. Das Jahr über lassen sie es leer stehen. Der Profit in der WEF-Zeit reicht für das ganze Jahr. 

Bars einmal im Jahr geöffnet

Das Nachtleben? Im Niedergang. Einst gab es die Chämi Bar an der Promenade, seit Jahrzehnten eine Institution für Jung und Alt. Sie war klein, dunkel, ab und zu traten DJs auf, manchmal bis fünf Uhr früh. Man spielte Dart und trank rauchigen Whisky. Bis den Betreibern gekündigt wurde. Interessierte neue Betreiber seien abgelehnt worden, heisst es. Der Eigentümer habe ihnen gesagt, er wolle die Bar nur noch während des WEF vermieten. Auch das Sonash Irish Pub sowie die C Bar sind bereits seit Monaten geschlossen. Was genau damit passieren soll, weiss niemand. 

Nachtleben im Niedergang. Die Chämi-Bar wurde neben anderen geschlossen.
Foto: Screenshot

Davos, Ende der Wintersaison. Der Nabel der Welt ist zur Geisterstadt mutiert. Die Storen zahlreicher Wohnungen sind unten. Nur einmal im Jahr gehen sie hoch, zur WEF-Zeit. Dann lassen sich während fünf Tagen 20'000 oder 30'000 Franken verdienen – bei manch einer luxuriöseren Absteige gar bis zu 100'000 Franken. Die allermeisten dieser Wohnungen sind Zweitwohnungen. Der Anteil der Zweitwohnungen am Wohnungsbestand liegt mittlerweile bei rund 60 Prozent. Die Zweitwohnungs-Initiative konnte diesen Trend nicht verhindern, obwohl sie den Anteil von Zweitwohnungen in einer Gemeinde auf maximal 20 Prozent des gesamten Wohnungsbestands begrenzt. 

60 Prozent Zweitwohnungen

Eine Ausnahme machts möglich: Die Umsetzung der Volksabstimmung, die 2016 in Kraft trat, lässt zu, dass alle Wohnungen, die vor 2012 gebaut wurden, in Zweitwohnungen umgewandelt werden dürfen. Und 90 Prozent des Wohnungsbestands wurden nun mal vor 2012 gebaut. «Covid hat den Trend zu Zweitwohnungen verstärkt», sagt Donato Scognamiglio, Mitgründer des Immobilienspezialisten Iazi. Infolge des Wunsches vieler Menschen nach einem Homeoffice in den Bergen wurden viele Erstwohnungen in Zweitwohnungen umgewandelt.

De facto herrscht in Davos Wohnungsnot. Lag der Leerwohnungsbestand vor Covid noch bei über 1 Prozent, ist er jetzt bei rekordverdächtigen 0,1 Prozent. Im Schweizer Durchschnitt beträgt er 1,1 Prozent. Das treibt die Preise hoch. Die Mietpreise der wenigen Davoser 3,5-Zimmer-Wohnungen, die auf Immoscout 24 ausgeschrieben sind, belaufen sich mehrheitlich auf über 3000 Franken im Monat. Exklusive Nebenkosten. Ist die Wohnung günstiger, hat sie meist einen Haken. Dann ist sie befristet, zur Untermiete oder mit einer Auszugsklausel während des WEF ausgeschrieben. Nachzulesen etwa in einer auf Homegate. Eine voll möblierte 2,5-Zimmer-Wohnung, 48 Quadratmeter, wird dort für 1300 Franken angeboten. Dafür kriegt man ein kleines Studio mit alter Küche in einem Wohnblock mit Blick auf den gegenüberliegenden Wohnblock. Von Ende November bis Anfang April muss man raus. 

Viele Wohnungen mit Ausziehklausel

Das ist heute keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel. «Zahlreiche Wohnungen werden mittlerweile nur noch mit einer Klausel für den Auszug während des WEF vermietet», erklärt Mieterinnen- und Mieterverbandspräsident Joshua Wada. Das sei das gute Recht jedes Eigentümers, sagen die Eigentümer. Und so müssen die Einheimischen abwandern. Manch einer geht nach Klosters, wo es auch so gut wie keine Wohnungen gibt, viele bis nach Landquart. Mittlerweile liegt Einwohnerzahl in Davos bei 10'700. 2021 waren es noch 12'100. Fällt die Zahl unter 10'000, ist Davos keine Stadt mehr. Bezahlbarer Wohnraum ist das dringlichste Thema der politischen Parteien vor Ort. Eine Wohnraumstrategie, 2023 verabschiedet, soll Abhilfe schaffen. Ob sie mehr als ein Tropfen auf dem heissen Stein ist, wird sich noch zeigen. «Egal, wie viel wir bauen – mit der Umnutzung zu Zweitwohnungen wird der Erstwohnungsbau ausgehebelt», sagt Joshua Wada. 

Künftig will die Gemeinde selbst (oder via Baurechtsvergabe) Liegenschaften bauen. 30 Wohnungen auf dem Valentin-Meissner-Areal sind in Planung, 95 weitere sollen durch die Abgabe von Liegenschaften an eine gemeinnützige Trägerschaft entstehen. Investoren und Investorinnen kommt man raumplanerisch entgegen, wenn sie im Gegenzug Wohnungen zur Kostenmiete anbieten. So etwa beim Färbi-Areal: Der dortige Investor kann eine höhere Ausnützungsziffer nutzen, gibt aber gleichzeitig einen Drittel der 60 Wohnungen in Kostenmiete ab.

Das grösste Projekt: Auf dem Valbella-Areal sind neunstöckige Wohngebäude vorgesehen. Die Klinik auf dem Gelände, die seit zwanzig Jahren geschlossen ist, soll abgebrochen werden. Rund 30 Prozent der 150 Wohnungen sollen preisgünstig zur Kostenmiete angeboten werden. 

Wohnungsnot. Niedergang der Geschäfte und des Nachtlebens. «Davos ist nicht mehr sexy», sagt ein Einheimischer. Das WEF mache Davos kaputt. Die Jugendlichen hätten keine Zukunft, in der Bevölkerung herrsche Frust, Angst und Hass. Alles Polemik? Nicht ganz. Das WEF spült Millionen in die Kassen vieler vor Ort. Gleichzeitig hat es negative Begleiterscheinungen, die immer deutlicher werden.

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