Krisenmodus bei Swiss Steel und Stahl Gerlafingen
Militärgerät und Schrott als letzte Hoffnung für Schweizer Stahlindustrie

Bei den zwei Schweizer Stahlkonzernen brodelt es. Sie wählen unterschiedliche Wege, um aus der Krise zu finden. Für Swiss Steel könnte die Rüstungsindustrie ein Lichtblick sein. Stahl Gerlafingen setzt auf Recycling.
Publiziert: 29.11.2024 um 18:40 Uhr
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Swiss Steel gehört auf dem europäischen Langstahlmarkt zu den führenden Anbietern von Spezialblankstahl.
Foto: Keystone

Auf einen Blick

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Bernhard Fischer
Handelszeitung

Für die krisengebeutelte Schweizer Stahlindustrie gibt es einen Hoffnungsschimmer: die europäische Rüstungsindustrie. Diese ist ein bedeutender Verbraucher von Stahl, insbesondere für die Herstellung von Panzern, Schiffen, Flugzeugen und anderen militärischen Ausrüstungen.

Der Rat der Europäischen Union hatte vor gut einem Jahr beschlossen, die Verteidigungsindustrie der EU zu stärken. Unter anderem mit mehr Stahl, der für den Nachschub von Kriegsmaterial unerlässlich ist. Genaue Zahlen über den Verbrauch und den Bedarf sind zwar nicht öffentlich. Aber: Fast 15 Prozent des Stahlbedarfs kommt gemäss der europäischen Stahlvereinigung Eurofer aus dem Maschinenbau. In dieser statistischen Zahl sind laut Branchenkennern die Stähle für die militärische Verwendung enthalten.

Das Gros geht nach wie vor in den Bausektor (35 Prozent) und in die Automobilindustrie (19 Prozent). Das ist mit ein Grund dafür, dass viele Stahlhersteller derzeit so am Boden sind. Bei Swiss Steel lag der Verlust 2023 bei knapp 295 Millionen Euro.

Mehr als 98 Prozent Umsatz macht Swiss Steel im Ausland, grösstenteils mit Automobilherstellern in Deutschland. Diese sind dabei, ihre Produktionen herunterzufahren und Werke zu schliessen.

Drei Kernfaktoren sorgen für Stahl-GAU

Auch die Nummer zwei im Schweizer Stahlmarkt schloss 2023 im Minus: 108 Millionen Euro Verlust fuhr das Unternehmen Stahl Gerlafingen ein. Dessen Produkte sind primär Bewehrungs- und Profilstahl für die Bauwirtschaft. Laut dem Münchner Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo sinkt das Bauvolumen in West- und Osteuropa 2024 um 4 Prozent. Ein weiteres Horrorjahr für die Schweizer Stahlwirtschaft ist zu befürchten. Die jüngste Meldung kommt aus Deutschland: Dessen grösster Stahlhersteller Thyssenkrupp Steel, ein Seismograf der europäischen Stahlwirtschaft, will bis 2030 rund 5000 Stellen streichen und einen ganzen Standort schliessen.

Geht es um Stahl für Häuser und Autos, bricht nicht nur die Nachfrage in Europa ein. Gleichzeitig fluten asiatische Hersteller den Markt, und die Stahlpreise rasseln wegen des weltweiten Überangebots in den Keller. Zudem ist Energie für die Öfen vieler Stahlkocher wegen der Folgen des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine nach wie vor teuer. Weniger Nachfrage, Konkurrenz aus Fernost und hohe Energiekosten: Das sind die drei Kernfaktoren für den nächsten Super-GAU in der Stahlwelt.

Und es drohen noch mehr Kündigungen und Werkschliessungen. Angesichts der Hiobsbotschaften kursiert bereits die Frage: Haben Stahlproduzenten in der kleinen Schweiz überhaupt noch Sinn?

Ja, findet Judith Kirton, Generalsekretärin des Gewerkschaftsbunds IndustriAll in Brüssel. Sie erzählt, was derzeit Politiker und Industrielle in den Wandelhallen der EU-Hauptstadt beschäftigt. Nämlich dass der Massenmarkt für Stahl in Europa verloren sei. In diesem Markt ist Stahl Gerlafingen mit der Produktion von Bewehrungs- und Profilstahl unterwegs.

Rüstungslieferungen auf niedrigem Niveau

Aber Spezialisten hätten aus EU-Sicht Chancen. Dazu gehört auch Swiss Steel, die technisch komplexe Stahlsorten produzieren kann und auch die Luft- und Raumfahrt beliefert. Das Unternehmen ist eine führende Anbieterin von Spezial-Langstahl-Produkten und einer der grössten Elektrostahlproduzenten Europas in den Bereichen Edelbaustahl, rostfreier Stahl und Werkzeugstahl.

Die Zertifizierungen für den Spezialstahl sind auch für Rüstungsgüter geeignet. Zwar sind Lieferungen in die Rüstungsindustrie «derzeit noch auf einem niedrigen Niveau», sagt eine Sprecherin von Swiss Steel. Aber: «Wir haben das Know-how und wenn es Nachfrage an den Märkten gibt, weil sich die geopolitische Situation weiter verändert, dann können wir mehr liefern.»

Innerhalb der Schweiz ist es heute schon so, dass Swiss Steel das einzige Unternehmen in der Schweiz ist, das im Bedarfsfall Stahl für die Landesverteidigung produzieren kann. Mit Standorten etwa in Deutschland und Frankreich stellt sich auch nicht die Frage der Ausfuhr von Kriegsmaterial oder Dual-Use-Gütern aus der Schweiz, weil vor Ort produziert werden kann.

Stahlflut nagt an Perspektiven

Für Stahl Gerlafingen ist die Situation anders – und prekärer. Der Betrieb ist eine Tochter des italienischen Stahlkonzerns AFV Beltrame und produziert in der Schweiz Stahl für das Baugewerbe und Profilstahl für Maschinen. Nur zu höheren Kosten als in den meisten Nachbarländern – die Löhne sind höher, der Strom teurer –, und die Ware ist nicht so gefragt.

Das Unternehmen hatte seit Mitte 2023 mit einem faktischen Importverbot der EU bei Breitflachstahl zu kämpfen. Die Handelsbeschränkungen sind eine Reaktion auf Zölle der USA aus der Ära Trump. Dadurch wurden Unmengen von indischem und asiatischem Stahl auf Europa umgelenkt. Gegen den Stahl aus Drittstaaten wehrte sich die EU mit Zollkontingenten und Zöllen. Und aus Brüsseler Perspektive ist die Schweiz ein Drittstaat und daher in einer Kategorie mit Indien und China. Die angekündigte Aufhebung der EU-Zölle in diesem Jahr kommt für Stahl Gerlafingen zu spät. Die entsprechenden Produktlinien wurden bereits geschlossen.

Viele Stahlhersteller mit EU-Sitz profitieren ausserdem von Subventionen, um hohe Energiekosten in der Produktion zu kompensieren. All das hat Folgen: Wegen der EU-Massnahmen sind bei Stahl Gerlafingen in diesem Jahr bereits die Produktion für Breitflachstahl und 95 Jobs weggefallen.

Schrottrecycling als Rettungsanker

Was Gerlafingen bleibt, ist ihre Rolle als Staubsauger der Nation für Stahlschrott. In den Öfen werden davon 600’000 Tonnen pro Jahr zu frischem Bewehrungsstahl für die Baustellen. Gäbe es Gerlafingen nicht, müsste der Stahlschrott per Bahn und LKW ins Ausland verbracht und neuer Armierungsstahl reimportiert werden. Das sagen die Befürworter von Staatshilfen, die den leidenden Betrieb als systemisch relevant für die Kreislaufwirtschaft sehen.

So wie zum Beispiel Christian Imark von der SVP: «Wenn in unserem ressourcenarmen Land schon derartige Mengen an Stahlschrott anfallen, sollten wir diese Rohstoffe auch dem Stoffkreislauf zuführen, wie es das Umweltgesetz verlangt.» Für Imark ist das nicht Industriepolitik, sondern eine «kohärente Umweltpolitik».

Stromsubventionen kein Heilsbringer

Diese Umweltpolitik sollen offenbar die Steuerzahler finanzieren, auch wenn das Endprodukt vielleicht nicht so gefragt ist. Die Liste der Forderungen des SVP-Politikers in einer Allianz mit der SP ist lang. Sie sieht unter anderem eine Entlastung bei den Netznutzungsgebühren vor. Das reduziert Schätzungen zufolge den Verlust in dreistelliger Millionenhöhe von Stahl Gerlafingen aber nicht einmal um ein Fünftel. Wie sehr Swiss Steel davon profitieren würde, verrät das Unternehmen nicht. Doch allzu viel dürfte es auch hier nicht sein: «Der Einsparungsbeitrag wäre einer von mehreren Bausteinen, der dazu beiträgt, die wirtschaftliche Grundlage des Unternehmens zu stärken.»

Das Geschäft retten diese Massnahmen nicht, strukturelle Probleme werden damit auch nicht gelöst. «Als Unternehmen tragen wir selbst die Verantwortung für unseren langfristigen Erfolg», sagt eine Sprecherin von Swiss Steel. Staatliche Unterstützung könne zwar punktuell Entlastung schaffen, «ist jedoch keine nachhaltige Lösung für die grundlegenden Herausforderungen».

Swiss Steel hatte angekündigt, weltweit 800 Stellen abzubauen, davon 130 in Emmenbrücke. Stahl Gerlafingen äussert sich derzeit nicht, sieht aber von der geplanten Kündigung von 120 Mitarbeitenden vorerst ab.

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