Kostenexplosion im Gesundheitswesen
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Anstieg um 5 Prozent:Kostenexplosion im Gesundheitswesen

Krankenkassen schlagen Alarm
Kostenexplosion im Gesundheitswesen

Die Gesundheitskosten steigen im 1. Quartal um fünf Prozent. Verena Nold, Direktorin von Santésuisse, schliesst einen Prämienschub nicht aus.
Publiziert: 09.05.2020 um 23:57 Uhr
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Aktualisiert: 10.05.2020 um 08:02 Uhr
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«Pandemiepläne sind offensichtlich nicht umgesetzt worden», meint Verena Nold, Direktorin Santésuisse.
Foto: Keystone
Interview: Reza Rafi

Was kostet uns das Gesundheitswesen im Corona-Jahr 2020?
Verena Nold: Den Krankenversicherern ist sehr wichtig, dass sie einen Beitrag zur Bewältigung der Krise leisten können und die Menschen wegen des Coronavirus nicht noch zusätzlich finanziell belastet werden. Deshalb stehen die Kosten nicht an erster Stelle. Den Einfluss des ­Virus auf die Gesundheitskosten kennen wir noch nicht. Was wir jetzt aber sicher wissen: Im ersten Quartal 2020, von Januar bis März, sind die Kosten im Schweizer Gesundheitswesen um fünf Prozent ge­stiegen.

Ein überdurchschnittlicher Wert.
Ja. Im Schnitt stiegen die Gesundheitskosten in den letzten 20 Jahren zwischen drei und vier Prozent. 2018 hatten wir sogar ein unterdurchschnittliches Wachstum. Nun ist diese Atempause leider vorbei.

Was sind die grössten Kostentreiber?
Pflegeheime gehören dazu, Physiotherapien sowie die ambulanten ­Spitalaufenthalte.

Dieses Wachstum sei unabhängig von Corona, sagen Sie. Können Sie den Kosteneinfluss der Pandemie abschätzen?
Das wird von mehreren Faktoren ­abhängen – wie viele Menschen sich noch anstecken, wie viele Spital­behandlungen es geben wird und wie viele Betroffene sich in der Intensivstation behandeln lassen müssen. Intensivbehandlungen schlagen kostenmässig stark zu Buche: Belegt ein Corona-Patient während zweier bis dreier Wochen ein Intensivmedizinbett, kann das bis zu 120 000 Franken kosten. Aber, wie gesagt: Die Kosten sind nicht das Entscheidende. Wichtig ist, dass möglichst viele Patienten wieder gesund werden.

Experten rechnen mit einer ­Kostendelle durch Corona. Und die SP fordert, die Prämien 2021 auf dem jetzigen Niveau zu belassen ...
Wir setzen uns für die Prämien­zahler ein. Da wollen wir höhere Prämien – wann immer dies möglich ist – vermeiden. Ob es die Delle, die Sie ansprechen, wirklich gibt, werden wir erst nächstes Jahr wissen. Denn es ist unklar, ob die Kosten nicht einfach verlagert werden. Wenn die jetzt ausgesetzten Operationen zu ­einem späteren Zeitpunkt nachgeholt ­werden, fallen die Gesamtkosten des Gesundheitswesens höher aus als geplant. Die Krankenkassen haben jedoch ein Reservepolster von acht Milliarden Franken, mit denen sich die Zusatzkosten der Corona-Krise finanzieren lassen. Diese Summe entspricht drei bis vier Monats­prämien. Für die Bewältigung der Pandemie ist genügend Geld vor­handen. Und: Wenn keine zweite ­Infektionswelle kommt, werden die Kassen ihre Geldreserven nicht ­ aufstocken müssen.

Das alles klingt trotzdem nach ­einem bevorstehenden Prämienanstieg.
Wir versuchen, das zu vermeiden. Wir möchten in dieser schwierigen Zeit die Menschen in der Schweiz nicht noch stärker belasten. Aber wir haben es nicht selber in der Hand, das hängt von der Gesamtkostenentwicklung ab. Deshalb kann ich das leider nicht ganz ausschliessen. Die Kosten sind, wie gesagt, Anfang des Jahres bereits überdurchschnittlich gestiegen. Die Prämien werden auf Basis der erwarteten Kostenentwicklung im kommenden Jahr berechnet. Die Prämienkalkulationen der Krankenversicherer werden dann im Juli dem Bundesamt für Gesundheit zur Genehmigung vorgelegt.

Die Aufgabe der Kassen ist das Bezahlen von Rechnungen. Gibt es derzeit ein spezielles Regime?
Der Kernauftrag ist, die ­Finanzierung des ­Gesundheitswesens aufrechtzu­erhalten. Damit wir das sicherstellen können, haben die Versicherer ihre Notfalldispositive heraufgefahren. Es wird alles dafür getan, dass Rechnungen rasch beglichen, Konsulta­tionen via Video ermöglicht und Kostengutsprachen schnell erteilt werden. Für ganz teure Medikamente zum Beispiel gibt es im Normalfall vertiefte Prüfverfahren hinsichtlich der medizinischen Notwendigkeit. Dieser Prozess wird beschleunigt – im Zweifelsfall wird bezahlt.

Bevölkerung und Politiker ent­decken gerade wieder den Wert der Regionalspitäler. Fürchten Sie, dass die Corona-Pandemie zu ­einem Strukturerhalt führen wird?
Nein. Die Krise hat gezeigt, dass man hoch spezialisierte Medizin braucht. Man hatte nicht zu wenige Betten, sondern man hatte nicht die richtigen. Einige Spitäler haben darum Patienten aufgenommen, damit die grossen, spezialisierten Spitäler genug Kapazitäten für Corona-Betroffene haben. Insgesamt hat das Schweizer Gesundheitswesen die Krise sehr gut gemeistert, ebenso Bund und Kantone.

Sie vergeben also die Bestnote?
Der Bundesrat macht eine hervor­ragende Arbeit. Eine Kritik erlaube ich mir dennoch: Beim Bund waren Pandemiepläne vorhanden, die sind jedoch offensichtlich nicht umgesetzt worden. Da bestehen offene Fragen, die dringend geklärt werden müssen. Beispielsweise muss in ­Zukunft garantiert sein, dass wir über die notwendigen Schutz­materialien verfügen, um die Menschen zu schützen. Es gibt aber noch andere Lehren, die wir aus dieser Krise ziehen können.

Welche wären das?
Wir haben europaweit die höchsten Medikamentenpreise. Hier zahlt man für Medikamente – die nota­bene in China hergestellt werden – deutlich mehr als in den Nachbar­ländern. Und trotzdem kam es vereinzelt zu Versorgungsengpässen! Ein hohes Preisniveau schützt uns also nicht gegen eine mögliche Knappheit. Wichtiger sind Notvorräte von wichtigen Medikamenten. Pflichtlager sind zentral, um ­gewappnet zu sein. Hingegen gibt es keinen Grund, warum die Preise – beispielsweise für Generika – doppelt so hoch sind wie in Frankreich oder Deutschland.

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