Kurz vor 6 Uhr auf dem Zürichsee. Die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch die Wolkendecke. Das graue Nass verwandelt sich in ein Glitzermeer.
Für Adrian Gerny (36), Präsident der Zürcher Berufsfischer, neigt sich der erste Teil seines Arbeitstages dem Ende zu. Seit 2 Uhr ist er auf dem Boot. Nun holt er das letzte Netz aus dem Wasser, das er am Vorabend ausgelegt hat.
In den blauen, mit Eis gefüllten Kisten hat es noch Platz. Doch mit der Sonne steigt auch die Ausbeute. Jetzt rattert alle paar Sekunden ein silbrig-weisser Fisch ins Boot. «Alles Felchen», sagt Gerny. «Im Frühsommer gehen wir im Zürichsee mit unseren Schwebenetzen auf fast nichts anderes.»
Felchen bringen am meisten Ertrag. 550 Gramm Filet bleiben pro Kilo Fisch. Beim Egli sind es 400 Gramm, bei Rotaugen, einem Weissfisch, nur etwa 280 Gramm.
Laut Bundesamt für Landwirtschaft werden in der Schweiz pro Kopf jährlich rund neun Kilo Fisch und Meeresfrüchte konsumiert. Besonders populär: der Fischverzehr direkt am See.
Was dabei auf den Tellern landet, stammt jedoch nur in den seltensten Fällen von Schweizer Berufsfischern. Oder, wie es Gerny grinsend formuliert: «So viel Zürichsee-Egli, wie rund um den Zürichsee auf den Speisekarten steht, gibt es gar nicht im See.»
Mit dem Ärger über die Fischdeklaration vieler Gastronomen ist es Gerny aber ernst: «Zahlreiche Restaurants werben mit Fisch ‹aus dem See›. Und jeder, der auf der Terrasse sitzt, denkt zu Recht, dass der See gemeint ist, auf den er gerade blickt.»
In Wirklichkeit könne der Fisch jedoch von überallher kommen. «Die Leute lassen sich ganz viele Gummi-Deklarationen einfallen, um ihre Gäste an der Nase herumzuführen.»
Es sind happige Vorwürfe des Berufsfischers. Recherchen von Blick zeigen jedoch: Gerny hat recht. In zahlreichen Schweizer Fischrestaurants gibt es Deklarationen, die ungenau, missverständlich oder gar irreführend sind.
Ein Beispiel: Das Restaurant Panorama in Aeschiried BE. Das Gilde-Restaurant, das hoch über dem Thunersee «Wanderer, Langläufer, Gourmets und Geniesser» empfängt, bietet auf der Karte Egli «aus dem See» an, für 39 Franken.
Wer die zweistündige Wanderung ab Spiez auf sich nimmt, dürfte aufgrund der Formulierung davon ausgehen, sich mit einem Fisch zu belohnen, der im Thunersee gefangen wurde. Doch weit gefehlt. Auf Anfrage teilt das «Panorama» mit, dass das Egliknusperli aus Polen stammt.
Die Begründung der Betreiber: «Wir bieten den Egli unter der Rubrik ‹aus dem See› an, da der Fisch ein Süsswasserfisch ist und unser Restaurant in der Bergregion ist.»
In der Cabane du Pêcheur, direkt am Bielersee in Erlach BE, ist es ähnlich. Auf der Website wird potenziellen Gästen versprochen: «Die Spezialität sind die nach unserem Hausrezept frittierten Fische aus den Seen.» Dabei arbeite man «vorwiegend mit regionalen Produkten und Lieferanten der Drei-Seen-Region» zusammen.
Die Verkaufsschlager des Lokals sind Egli-, Felchen-, Hecht- und Zanderknusperli. 200 Gramm gibt es für 21 bis 27 Franken. Auf Nachfrage muss der Wirt jedoch einräumen: «Wir haben aktuell nur Felchen aus den drei Seen. Der Zander kommt aus Estland, die Egli aus Polen.»
Immerhin: Die Verantwortlichen beteuern, dass vor Ort «stets korrekt» deklariert werde. Zudem habe man die Wortwahl auf der Homepage nun angepasst.
Grosshändler, von denen die Restaurants ihre Ware beziehen, setzen derweil auf Etiketten, die ebenfalls in die Irre führen können.
Beim Familienunternehmen Aligro, das schweizweit 14 Standorte zählt und rund 1000 Personen beschäftigt, stammt das Zanderknusperli gemäss Onlinedeklaration aus Russland und wird in Deutschland verarbeitet.
Auf der Verpackung wird das Produkt aber wie folgt angepriesen: «Zanderfilet im Bierteig nach Original-Schweizer-Rezept». Wer die Knusperli im Laden findet und das Kleingedruckte nicht liest, dürfte davon ausgehen, einheimischen Fisch zu kaufen.
Der Betrieb sieht das jedoch anders: «Die Angabe ‹nach Original-Schweizer-Rezept› soll nicht auf eine Herkunft hindeuten, sondern auf eine Art des Kochens und Zubereitens.» Die Verantwortlichen betonen: Die gesetzlichen Verpflichtungen werden eingehalten.
Händler und Restaurants, die ihren Fisch tatsächlich aus Schweizer Seen beziehen, betonen etwas anderes: ihre Zusammenarbeit mit Berufsfischern.
«Ich kenne keinen Kunden von uns, der nicht mit uns als Lieferanten auch Werbung macht», sagt Gerny. Mit gutem Grund: Fisch aus Schweizer Gewässern ist fast doppelt so teuer wie Importware.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Schweizer Löhne, Schweizer Mieten und nicht zuletzt Schweizer Vorschriften. «Wir haben die schonendste und nachhaltigste Berufsfischerei der Welt», sagt Gerny. Das sei absolut sinnvoll, aber kostspielig.
Ein Beispiel dafür, was die hiesige Fischerei im Vergleich zum Ausland verteuert, sind unterschiedliche Netzgrössen – und zwar für jede Fischart, in jedem See. «Meine Maschengrösse für Felchen aus dem Zürichsee ist eine andere als am Sempachersee, am Zugersee oder am Genfersee», so Gerny.
Dadurch werde sichergestellt, dass die Fische, die aufgrund der Futterzusammensetzung und Genstämme überall anders wachsen, erst im Netz hängenbleiben, wenn sie mindestens zweimal auf natürliche Art abgelaicht haben. «Alle anderen bleiben gar nicht im Netz hängen.»
Solche Regeln gebe es in kaum einem anderen Land. Und auch nach dem Fang seien die Vorschriften in der Schweiz ausserordentlich streng. Gerny muss Statistiken und Temperaturkontrolllisten führen sowie die Rückverfolgbarkeit seiner Fische jederzeit gewährleisten. «Ich kann bei jedem Fisch sagen, an welchem Tag er gefangen, verarbeitet und eingefroren wurde.»
Gerny ärgert es deshalb, wenn Gastronomen, die auf Zucht- oder Importfisch setzen, mit falschen Wildfang-Versprechungen auf Kundenfang gehen. Gemacht wird das trotzdem – auch an «seinem» Zürichsee.
Das Restaurant Schifffahrt in Bollingen SG, die «Perle direkt am oberen Zürichsee», stellt online «den Tagesfang direkt vom Fischer» in Aussicht. In der Praxis kommt das aber nie vor, wie eine Nachfrage zeigt. «Wir setzen in erster Linie auf Zuchtfisch aus der Schweiz», teilt der Wirt mit.
Die Formulierung auf der Website erklären die Verantwortlichen mit Plänen, die sich als unrealistisch erwiesen hätten. «Als wir vor drei Jahren das Restaurant Schifffahrt übernahmen, hatten wir das Ziel, unseren Gästen Fische direkt aus dem Zürichsee anzubieten», sagt der Inhaber. Man habe aber feststellen müssen, dass das entsprechende Angebot viel zu klein sei.
Am Bodensee klagen Gastronomen ebenfalls darüber, dass die lokalen Berufsfischer nicht in der Lage seien, ihren Bedarf zu decken. So schreiben die Betreiber von Osci's Fischbeiz in Steinach SG per E-Mail, dass sie aufgrund des knappen Angebots 60 bis 70 Prozent ihrer Fische aus dem Ausland beziehen müssten.
Auf der Speisekarte wird dennoch Nähe suggeriert: «Die frischen Fische beziehen wir wenn immer möglich vom Bodensee. Wenn der Fang nicht ausreicht, müssen wir auf weitere Binnenseen ausweichen.» Von Ausland und Import kein Wort.
Es ist diese Intransparenz, die Berufsfischer Gerny nervt. «Ich habe absolut kein Problem damit, dass in der Schweiz grossmehrheitlich Import-Fisch gegessen wird», stellt er klar. Wegen des begrenzten Inland-Angebots sei das gar nicht anders möglich. «Was mich jedoch stört, ist diese unehrliche Kommunikation.»
Möglich ist das Verwirrspiel nicht zuletzt deshalb, weil für Fisch weniger strenge Deklarationsregeln gelten als für andere Lebensmittel.
Martin Brunner (61), Kantonschemiker und Leiter der Lebensmittel- und Chemikalienkontrolle im Kanton Zürich, sagt dazu: «Für verarbeitete Fischereiprodukte im Offenverkauf, also zum Beispiel in der Gastronomie, gibt es in der Schweiz keine gesetzlichen Vorgaben zur schriftlichen Angabe der Herkunft.» Wer es genau wissen wolle, müsse das Servicepersonal fragen.
Bei Fischknusperli zum Beispiel überprüfen die Behörden die Herkunft deshalb nur dann, wenn diese in der Speisekarte freiwillig angepriesen wird. Dabei stossen die Kontrolleure regelmässig auf Ungereimtheiten.
Brunner: «Die Angaben entsprechen oft nicht den Tatsachen, was zu einer Beanstandung führt – worauf die Betriebe dann diese Angaben einfach weglassen.» Da die Herkunftsdeklaration bei Knusperli freiwillig sei, müsse die Behörde das so akzeptieren.
Gerny will das nicht länger hinnehmen. Er fordert deshalb eine Verschärfung der Fischdeklaration: «Ganz egal, wo ein Fisch gefangen, gezüchtet oder verarbeitet wurde – es muss bei allen Fischprodukten klar deklariert werden, wo sie herkommen.» Die Konsumenten hätten ein Recht, zu wissen, woher ihr Essen komme.
Das Essen, das tatsächlich direkt aus dem Zürichsee kommt, steuert noch vor 7 Uhr das Ufer an.
Gerny hievt drei Kisten Felchen aus dem Boot. Damit beginnt der Arbeitstag des Fischers erst so richtig: «In der Hochsaison brauche ich für die Verarbeitung der Fische mindestens so lange wie für das Einsammeln der Netze.»
Am frühen Nachmittag bringt er seine Fische den Kunden. Danach geht es zurück auf den See, damit er auch am nächsten Morgen wieder etwas einzusammeln hat. In der Hochsaison dauert ein Arbeitstag 16 bis 18 Stunden. Am Vortag war erst um 20.15 Uhr Feierabend.
Bereut er seine Berufswahl? Gerny überlegt einen Moment. Dann gesteht er: «Es gibt – wie wohl in jedem Job – Momente und Dinge, die nerven.» Am Ende würde er aber wieder den gleichen Weg einschlagen. «Ich habe bis jetzt noch nichts gefunden, das mir mehr Spass macht.»