Auf den ersten Blick wirkt das Video unspektakulär: Es zeigt ein Bewerbungsgespräch per Videochat, im linken Fenster redet der Personaler, rechts lauscht ein junger Mann in einem beigen Hemd. Die beiden tauschen auf Englisch Floskeln aus: «Wie gehts? Wo sind Sie?» «In London», sagt der Bewerber etwas steif.
Plötzlich fährt die Kamera zurück und ein grinsendes Gesicht taucht neben dem Monitor auf. Es ist der gleiche junge Mann wie im Videochat, allerdings völlig anders gekleidet. Mit offenem Mund verfolgt er, wie sein Doppelgänger gerade von beruflichen Erfolgen berichtet.
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In diesem Moment wird klar: Der Bewerber im Videochat ist ein Fake. Sein Aussehen, seine Stimme, sogar seine Antworten – alles wurde mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) erschaffen. Der Personaler merkt jedoch nichts davon und fährt stur mit dem Interview fort.
Bewerbung in Sekunden
Dieser Clip, der in der HR-Szene hohe Wellen schlägt, hat der britische Unternehmer Aidan Cramer gefilmt und auf seiner Linkedin-Seite veröffentlicht. Ein bisschen macht er damit Werbung in eigener Sache, denn seine Firma AI Apply bietet KI-Hilfen für Jobsuchende an.
Wer keine Zeit oder Lust hat, seine Bewerbung selbst zu schreiben, kann auf der Website einfach die Stellenanzeige und seine persönlichen Unterlagen hochladen. Ein intelligenter Algorithmus spuckt dann sekundenschnell die perfekte Bewerbung aus, mit Lebenslauf, Anschreiben und auf Hochglanz poliertem Porträtfoto.
Irgendwann kam Cramer auf die Idee, auch den nächsten Schritt – das Bewerbungsgespräch – an eine Maschine auszulagern. Er beschafft sich ein chinesisches Programm, mit dem er sein Äusseres und seine Stimme klonen kann, die Antworten seines Avatars lässt er von einem Dialogprogramm geben, das er mit seinem Lebenslauf füttert.
Mit dem so erschaffenen Avatar ist Cramer bei zwölf Firmen erfolgreich ins Interview gegangen, wie er auf Nachfrage bestätigt. Der Personaler in dem Linkedin-Video sei erst nach «ein paar Minuten» misstrauisch geworden.
Nachdem er über den Schwindel aufgeklärt worden sei, sei der Mann «schockiert» und «beeindruckt» gewesen, schreibt Cramer im E-Mail-Interview mit der «Handelszeitung». Er kann sich gut vorstellen, das Klonwerkzeug in Zukunft auch seinen Kundinnen und Kunden anzubieten. Das sei eine legitime Antwort auf die «automatischen Auswahlverfahren» der Firmen.
Motivationsschreiben mittels Chat GPT
«Wettrüsten» – mit diesem Wort beschreiben Personalprofis das, was gerade auf dem Arbeitsmarkt passiert. Sowohl die Unternehmen als auch die Jobsuchenden stürzen sich auf neue KI-Tools, um sich die Arbeit zu erleichtern.
Das lästige Verfassen eines Motivationsschreibens zum Beispiel überlassen 19 Prozent der Bewerberinnen und Bewerber mittlerweile Chat GPT, und weitere 41 Prozent liebäugeln damit, wie eine Umfrage der Techfirma Softgarden im deutschsprachigen Raum ergab.
Die Arbeitgeberseite hält sich im KI-Wettrüsten offiziell noch zurück. Nur 8 Prozent setzen die Technik im Personalbereich ein, heisst es in einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Empfehlungsquote von 100 Prozent
Doch hinter den Kulissen hat der Vormarsch der Automaten im Recruiting längst begonnen. «Es gibt internationale Personalvermittler, die KI bei der Formulierung der Stellenanzeigen und bei der Auswahl der Kandidaten ausgiebig nutzen», berichtet Marc Beierschoder, Leiter AI & Data bei Deloitte Schweiz.
Mehrere Prozesse liessen sich so um den Faktor fünf beschleunigen, heisst es. Als eine Personalvermittlung ihr Team fragte, wer die KI-Werkzeuge weiterempfehlen würde, war die Quote eindeutig: 100 Prozent.
Dass Bewerberinnen und Bewerber und Arbeitgeber versuchen, sich gegenseitig auszutricksen, ist im Prinzip kein neues Phänomen. «Kurz nachdem Unternehmen die ersten Assessment-Center eingeführt hatten, erschienen ja auch Bücher mit Titeln wie ‹So meistern Sie das AC›», sagt Matthias Mäder und lacht. Er ist Verwaltungsratspräsident der Prospective Media Services Zürich, einem Dienstleister, der Werkzeuge für die digitale Rekrutierung anbietet.
Arbeitgeber können zum Beispiel ein Tool nutzen, das je nach angesprochener Generation automatisch Stellenanzeigen formuliert, ein anderes generiert Fragen für das Kandidateninterview. «Viele Prozesse sind schon KI-unterstützt», sagt Mäder. Zu den Kunden von Prospective gehören unter anderem Swisscom, Coop und SBB.
Algorithmen sortieren Bewerbungen
KI ist im Personalbereich weltweit auf dem Vormarsch. 99 Prozent der 500 grössten US-Firmen lassen eingehende Bewerbungen schon von Algorithmen vorsortieren. Davon könnten die Jobsuchenden durchaus profitieren, findet Experte Mäder.
«Ein Algorithmus erkennt zum Beispiel auch solche, die quereinsteigen möchten und die man durch ‹Upskilling› für die Position fit machen könnte. So etwas hat der menschliche Recruiter unter Umständen nicht im Blick.» Ausserdem könnten Algorithmen mehr Gerechtigkeit in die Auswahl bringen, da kein Bauchgefühl das Urteil verfälscht – vorausgesetzt, die KI wurde mit neutralen Daten trainiert.
Die Jobsuchenden haben sich längst darauf eingestellt, dass Maschinen ihre Unterlagen durchlesen. Im Internet kursieren zahllose KI-Tools, um die eigene Bewerbung für Algorithmen attraktiv machen zu können. Das Bewerbungsgespräch an einen Roboter outzusourcen, so wie Aidan Cramer es getan hat, erscheint vielen nur als letzter logischer Schritt – nach dem Motto: wie du mir, so ich dir.
Digitalexperte Mäder sieht die Bewerberinnen und Bewerber in diesem Rennen übrigens klar im Vorteil. «Sie können sich jedes neue Tool einfach auf den Laptop herunterladen – während sich die Unternehmen auch immer Gedanken über Datenschutz und Compliance machen müssen.»
Roboter als Talent-Scouts
Wo diese Entwicklung endet, lässt sich schon erahnen: Auf dem Arbeitsmarkt von morgen verhandeln nur noch Roboter mit Robotern. Die Arbeitnehmer lassen ihren Chatbot im Netz ständig nach neuen beruflichen Optionen fahnden, die Unternehmen wiederum schicken künstliche Intelligenzen los, um Talente zu scouten.
Treffen sich die Roboter, könnten sie sogar erste Verhandlungen durchführen. «Davon profitieren beide Seiten», findet Deloitte-Experte Beierschoder. «So bekommen viele Personen Stellen vorgeschlagen, auf die sie sich selber nie beworben hätten.»
Doch was ist, wenn es in Zukunft alle so machen werden wie Aidan Cramer und nur noch ihren digitalen Doppelgänger ins Interview schicken? Beierschoder erwartet, dass sich die Arbeitgeber darauf einstellen. «Das persönliche Treffen wird wichtiger.»
Ausserdem werde sich der Fokus in den Interviews verschieben. «Die Bewerberinnen und Bewerber müssen künftig stärker Kreativität und kritisches Denkvermögen unter Beweis stellen.»
Der digitale Trickser Cramer gibt auf Linkedin besorgten Personalern einen Tipp, wie sie die Klone in Zukunft entlarven können. «Fragen Sie einfach: Was ergibt 48’281’974 mal 98’362?» Kommt die Antwort prompt und richtig, ist der Kandidat eine Maschine.