Pierin Vincenz (61) hat turbulente Tage hinter sich. Im Oktober hat die Finanzmarktaufsicht ein Verfahren gegen ihn eröffnet. Die Finma wollte untersuchen, ob Vincenz in seiner Zeit als Raiffeisen-CEO Interessenkonflikte korrekt gehandhabt hat – und ob er noch tragbar ist als Verwaltungsratspräsident der Helvetia-Versicherung. Am Montag zog Vincenz die Reissleine: Er trat als Helvetia-Präsident zurück. Gleichzeitig versprach er der Finma, dass er auch künftig auf Führungsfunktionen in der Finanzbranche verzichten werde. Daraufhin wurde das Verfahren gegen Pierin Vincenz eingestellt. SonntagsBlick traf den Bündner in Chur zum Interview.
SonntagsBlick: Herr Vincenz, als Raiffeisen-Chef galten Sie jahrelang als der Good Guy der Finanzbranche. Jetzt stehen plötzlich Sie am Pranger. Wie gehen Sie damit um?
Pierin Vincenz: Es gehört zum Spiel, dass es bessere und schlechtere Zeiten gibt. Gerade wenn man in einer streng regulierten Branche arbeitet, muss man damit rechnen, dass es auch mal Gegenwind gibt.
In den Kommentaren zu Ihrem Fall schwingt Schadenfreude mit. Ist das die Retourkutsche für Ihre Kritik an den Grossbanken?
Von einer Retourkutsche würde ich nicht sprechen. Aber eine Portion Schadenfreude ist sicher dabei. Damit muss ich leben. Schliesslich war ich in der Vergangenheit bei gewissen Themen auch angriffig.
Fühlen Sie sich ungerecht behandelt?
Nein. Die Finma führt pro Jahr etwa 60 Verfahren durch. Das ist der Auftrag einer Aufsichtsbehörde. Diesem Prozess muss man sich stellen. Ich hätte mir aber gewünscht, dass das Verfahren schneller abläuft.
Am Montag sind Sie als Verwaltungsratspräsident der Helvetia zurückgetreten. Warum?
Als ich erfahren habe, dass die Finma ein Verfahren gegen mich eingeleitet hat, wollte ich hinstehen und kämpfen. Ich dachte, es sei möglich, eine solche Situation durchzustehen – auch als Verwaltungsratspräsident eines börsenkotierten Unternehmens. Dann aber habe ich gemerkt, dass das Verfahren viel länger dauern wird, als ich gedacht hatte. Und dass die Helvetia dadurch belastet würde. Deshalb trat ich zurück.
Am Donnerstag stellte die Finma das Verfahren gegen Sie ein: wegen des Rücktritts und wegen Ihres Versprechens, in Zukunft nicht mehr im regulierten Finanzbereich tätig zu sein. Das klingt nach einem Schuldeingeständnis.
Nein, das ist kein Schuldeingeständnis. Ich habe immer im Interesse von Raiffeisen gehandelt. Dass ich in Zukunft nicht mehr im regulierten Bereich tätig sein will, liegt daran, dass ich mich als unternehmerisch denkender Mensch zu stark eingeschränkt fühle. Das brauche ich nicht mehr. Das habe ich der Finma auch so gesagt. Sie hat das zur Kenntnis genommen, die Ausgangslage neu beurteilt und das Verfahren eingestellt.
Nach Jahrzehnten sagen Sie plötzlich: Der regulierte Bereich interessiert mich nicht mehr. Eigenartig!
Ich war fast 30 Jahre lang im regulierten Bereich tätig. In dieser Zeit sind die Auflagen und Verfahren enorm komplizierter geworden. Ich sehne mich aber wieder nach unternehmerischen Freiheiten, die man früher auch im Banking noch hatte.
Wenn Sie überzeugt sind, dass Sie sich nichts haben zuschulden kommen lassen, dann müssten Sie ein Interesse daran haben, dass die Finma das Verfahren abschliesst.
Was die Finma aufgrund ihrer Spielregeln und Reglemente macht, kann ich nicht beeinflussen. Wie ich auch nicht beeinflussen konnte, dass das Verfahren schneller vorangeht.
Aber Sie könnten öffentlich sagen: «Ich habe nichts zu verstecken. Ich will, dass die Finma die Untersuchung abschliesst.»
Sagen kann ich das schon, aber das würde nichts ändern. Ich kann der Finma nicht vorschreiben, was sie zu tun hat. Mit meinem Rücktritt wollte ich die Unsicherheit bei Helvetia beenden. Damit ist das Verfahren für die Finma gegenstandslos geworden.
Sie sagen, dass Sie immer im Interesse von Raiffeisen gehandelt haben. Aber hat auch immer alles den Vorschriften entsprochen?
Ich handelte immer stark unternehmerisch und habe schnell entschieden. Es ist möglich, dass da vielleicht einmal etwas im Grenzbereich war, das man im Nachhinein, mit dem heutigen Verständnis von Corporate Governance, anders beurteilt. Das würde ich nicht ausschliessen. Aber ich habe ein gutes Gewissen und kann hinter meinen Entscheidungen stehen.
Aus Ihren Aussagen ist herauszuhören, dass Sie den Schweizer Finanzbereich für überreguliert halten.
Nach der Finanzkrise hat die Regulierung einen anderen Stellenwert erhalten. Bei den grossen, systemrelevanten Banken ist die Regulierung mittlerweile extrem. Raiffeisen musste sich aufgrund ihres Wachstums anpassen. Unternehmensführung hat heute sehr viel damit zu tun, sicherzustellen, dass alle Vorschriften eingehalten werden. Früher hat man vom Bankbeamten geredet. Heute sind wir wieder auf dem Weg dorthin.
Hat das Pendel nach der Finanzkrise zu weit ausgeschlagen?
Ja. Ich bin der Ansicht, dass es zu weit geht mit der Regulierung. Ich stelle fest, dass dadurch die Prozesse und Entscheidungen verlangsamt werden. Wenn die Kunden wochenlang auf einen Entscheid warten müssen, haben sie dafür kein Verständnis.
Bei der Finma-Untersuchung ging es um Interessenkonflikte. Die Details kennen Sie nicht. Aber können Sie sich vorstellen, worum es ging?
Nein, ich hatte keine Akteneinsicht und will nicht spekulieren.
Bekannt ist der Fall Investnet, ein Unternehmen, das in vielversprechende KMU investiert. Daran ist Raiffeisen beteiligt, aber auch Sie privat. Das schreit nach Interessenkonflikt!
Davon kann keine Rede sein. Als ich noch Chef von Raiffeisen war, habe ich dem Verwaltungsrat beantragt, dass ich mich nach meinem Austritt an Investnet beteiligen möchte. Ich wollte helfen, die Firma weiter aufzubauen. Das habe ich aber immer offengelegt. Mein Vorgehen war transparent.
In einigen Medienberichten war zu lesen, dass Raiffeisen oder Beteiligungsgesellschaften in Firmen investiert haben, an denen Sie privat bereits beteiligt waren. Haben Sie sich bereichert?
Das stimmt absolut nicht. In den Medien ist immer wieder von der Übernahme der Commtrain Card Solutions die Rede. Das war vor mehr als zehn Jahren. Raiffeisen hat in diesem Zusammenhang drei Gutachten in Auftrag gegeben. Alle drei Gutachten kamen zum Schluss, dass alles korrekt abgelaufen sei.
Sie waren 16 Jahre lang CEO von Raiffeisen. Wurden Sie mit der Zeit zu eigenmächtig?
Wir hatten ein eingespieltes Team und kannten uns gut. Trotzdem sind die Prozesse im Banken- und Versicherungswesen klar vorgegeben. Und die haben wir auch eingehalten. Aber möglicherweise würde ich das eine oder andere vielleicht ein bisschen anders machen, wenn man es mit den heutigen Augen anschaut.
Die «NZZ am Sonntag» hat konstatiert: «Ein wirksamer Kontrollmechanismus fehlte.»
Auch wenn ich nach aussen immer derjenige war, der die Organisation vertreten hat, hatten wir innerhalb von Raiffeisen intensivste Diskussionen. Wir sind innert 20 Jahren extrem gewachsen, und da sind sehr viele Entscheidungen getroffen worden. Aber es gab innerhalb der Organisation immer kontrollierende Mechanismen. Auch wenn diese vielleicht früher nicht so streng waren wie heute.
Hand aufs Herz: Hätten Sie nicht jemanden gebraucht, der gesagt hätte: «Achtung, da müssen wir aufpassen!»
Damals habe ich es nicht so empfunden. Aber wenn man heute den Spiegel vorgehalten bekommt, dann muss ich sagen: Ja, das wäre vielleicht nicht schlecht gewesen. Wenn wir aber den Erfolg von Raiffeisen anschauen, dann muss man auch sagen, dass unser Weg funktioniert hat. Ohne die unkomplizierten Entscheidungswege wäre Raiffeisen nie so schnell gewachsen.
Ein anderer kritischer Punkt: An Ihrem letzten Arbeitstag bei Raiffeisen haben Sie Ihre Frau in die Geschäftsleitung befördert.
Das muss ich klarstellen: Diese Beförderung hat stattgefunden, nachdem ich ausgetreten war. Mein letzter Arbeitstag war am 30. September 2015 und die Beförderung fand am 1. Oktober statt. Das war der Entscheid meines Nachfolgers und nicht von mir. Rein formell war ich zwar bis Ende September Chef. Tatsächlich war ich aber die letzten Monate, also in der Übergangsphase, nicht mehr an den Geschäftsleitungssitzungen.
Ihre Frau war bei der Akquisition von Firmen, die Sie als Chef machen wollten, für die Buchprüfung verantwortlich. Ist das nicht heikel?
Wir hatten immer das Prinzip, dass zwei Hierarchiestufen zwischen uns liegen mussten. Daran haben wir uns gehalten. Das war für alle transparent, und wir waren sogar stolz darauf, dass so etwas bei Raiffeisen noch möglich ist. Bei vielen Genossenschaftsbanken gibt es auch Konstellationen, dass ein Paar am selben Ort arbeiten darf. Heute wird das kritisiert.
Haben Sie Angst um Ihr Erbe bei Raiffeisen? Das Verfahren der Finma wurde zwar eingestellt, aber bei vielen Leuten wird trotzdem etwas hängen bleiben.
Wissen Sie, im Alter muss man irgendwann lernen, mit dem leben zu können, was über einen gesagt wird. Wenn das der Eindruck ist, der hängen bleibt, kann ich damit leben. Es freut mich nicht, aber am Schluss weiss ich, was ich geleistet habe. Die Qualität des Lebens besteht aus den Dingen, die man gerne macht, und nicht aus dem, was die Leute über einen sagen.
Betrachten Sie sich als einen der gefallenen Bankmanager?
Nein. Ich bin nach wie vor stolz darauf, was wir mit Raiffeisen erreicht haben. Diese Erfolge kann mir niemand wegnehmen. l
Pierin Vincenz (61) war von 1999 bis 2015 Chef von Raiffeisen. Er machte die Genossenschaftsbank zur Nummer eins im Schweizer Hypothekargeschäft. Im Oktober 2017 leitete die Finanzmarktaufsicht ein Verfahren ein gegen ihn. Es ging um die Handhabung von Interessenkonflikten während seiner Raiffeisen-Zeit. Diese Woche wurde das Verfahren eingestellt, weil Vincenz versprach, künftig nicht mehr im Finanzbereich tätig zu sein.
Pierin Vincenz (61) war von 1999 bis 2015 Chef von Raiffeisen. Er machte die Genossenschaftsbank zur Nummer eins im Schweizer Hypothekargeschäft. Im Oktober 2017 leitete die Finanzmarktaufsicht ein Verfahren ein gegen ihn. Es ging um die Handhabung von Interessenkonflikten während seiner Raiffeisen-Zeit. Diese Woche wurde das Verfahren eingestellt, weil Vincenz versprach, künftig nicht mehr im Finanzbereich tätig zu sein.
Pierin Vincenz (61) war von 1999 bis 2015 Chef von Raiffeisen. Er machte die Genossenschaftsbank zur Nummer eins im Schweizer Hypothekargeschäft. Im Oktober 2017 leitete die Finanzmarktaufsicht ein Verfahren ein gegen ihn. Es ging um die Handhabung von Interessenkonflikten während seiner Raiffeisen-Zeit. Diese Woche wurde das Verfahren eingestellt, weil Vincenz versprach, künftig nicht mehr im Finanzbereich tätig zu sein.