Es ist ein unglaublicher Plan: Eine Bahnlinie vom brasilianischen Santos durch Bolivien bis zum peruanischen Hafen Ilo. Bioceánico heisst das Jahrhundertprojekt, das auf 3750 Schienenkilometern den Atlantik mit dem Pazifik verbinden soll.
Haupttreiber ist der bolivianische Präsident Evo Morales (58). Das ist kein Zufall. Der Andenstaat leidet darunter, keinen direkten Meerzugang zu haben. Die Schiene soll Abhilfe schaffen. «Dieser Zug zwischen den Ozeanen wird der Panamakanal des 21. Jahrhunderts», so Morales. Sein Traum ist es, dass die Zugstrecke bis 2025 fertiggestellt wird – dann feiert Bolivien 200 Jahre Unabhängigkeit.
Leichterer Handel mit Asien
Doch nicht nur Bolivien, sondern auch Brasilien hat grosses Interesse daran, dass Bioceánico zustande kommt. Die Bahnlinie würde den Brasilianern den Handel mit Asien erleichtern. Die riesigen Umwege über den Panamakanal oder Kap Hoorn wären Geschichte.
Das Auftragsvolumen für Planung, Infrastrukturbau, Lokomotiven und Waggons sowie Wartung und Service beträgt zehn bis 14 Milliarden Dollar. Von diesem Kuchen wollen sich die Schweizer Bähnler ein schönes Stück abschneiden. Um stärker zu sein als die Konkurrenz aus China, spannen die Verbände der schweizerischen und deutschen Bahnindustrie zusammen. Auch die Regierungen der beiden Länder arbeiten Hand in Hand.
Jetzt haben die Schweizer Bahnunternehmer einen ersten Meilenstein erreicht. SonntagsBlick weiss: Am 14. Dezember kommt Evo Morales zu einem Arbeitsbesuch in die Schweiz. Der bolivianische Staatschef und sein Infrastrukturminister Milton Claros (39) werden zusammen mit Bundespräsidentin Doris Leuthard eine Absichtserklärung zu Bioceánico unterschreiben, ein sogenanntes Memorandum of Understanding (MoU).
Türöffner für die Schweizer Industrie
Ein MoU ist zwar rechtlich nicht bindend, gilt aber als wichtiger Schritt. «In Fällen wie dem vorliegenden kann ein MoU als Türöffner für die Schweizer Industrie in anderen Staaten dienen», schreiben Seco und Bundesamt für Verkehr auf Anfrage. Peter Jenelten (60), Präsident des Bahnindustrieverbandes Swissrail, freut sich: «Es ist fantastisch, dass wir nun die offizielle Schweiz hinter uns haben. Das gibt uns gehörig Rückenwind.»
Jenelten jubelt nicht nur als Swissrail-Präsident, sondern auch als Verkaufschef von Stadler Rail. Denn falls Bioceánico realisiert wird wie geplant, stehen die Chancen gut, dass Stadler Rail Zahnradlokomotiven liefern darf. Die Stadler HE 4/4 gilt als stärkste Zahnradlokomotive der Welt. Und das Wichtigste: Sie macht auch am Berg nicht schlapp.
Erfahrung aus den Alpen ist ein Trumpf
Die geplante Bioceánico-Route verläuft nämlich durch die Anden. Die Erfahrung der Schweizer Bahnindustrie in den Alpen ist deshalb ein Trumpf. «In den Bergen hat kein anderes Land so viel Fachwissen wie die Schweiz», sagt der Winterthurer Bahnunternehmer Michele Molinari (53). Er nimmt bei Bioceánico eine Schlüsselrolle ein.
Molinari lebte einige Jahre in Kolumbien, spricht perfekt Spanisch und beschäftigt sich seit drei Jahren mit dem Projekt. «Ich habe Evo Morales schon mehrere Male persönlich getroffen, um ihn von der Route durchs Gebirge zu überzeugen.»
Einen ersten Millionendeal hat Molinari in Bolivien bereits an Land gezogen, wie die «Handelszeitung» im September publik machte. Seine Molinari Rail AG plant zusammen mit einer spanischen Baufirma die Stadtbahn von Cochabamba. Auftragsvolumen: 450 Millionen Franken.
Die Stadtbahn von Cochabamba ist zwar nicht Teil des Bioceánico-Projekts, könnte für die Schweizer Bahnindustrie aber ein Türöffner sein. Molinari: «Wir sind sicher in einer sehr guten Ausgangslage.»
Fragezeichen bei der Finanzierung
Fragezeichen gibt es derzeit noch betreffend Finanzierung der Projekte. Mit dem MoU, das Leuthard und Morales im Dezember unterzeichnen werden, hofft Molinari aber auf Besserung: «Die Absichtserklärung hilft uns auch in den Verhandlungen mit Banken und Versicherungen.»
Die Chancen stehen also gut, dass die Schweizer Bähnler nach dem Gotthard-Basistunnel bald am nächsten Jahrhundertprojekt mitarbeiten können.