Mühlenplatz Luzern im Herbst 1973. Irmgard Ambühl gluschtets nach heissen Marroni. Die 17-Jährige spaziert zum Kiosk bei der Spreuerbrücke – dort werden die Leckereien ab Kälteeinbruch verkauft. Hinter dem Tresen steht der 24-jährige Markus. Ein kleiner, braunhaariger Mann. Das Marroni-Gen hat ihm sein Vater vererbt. Irmgard besucht ihn immer wieder im Kiosk. Sie hat ein Auge auf Markus geworfen – und auch sie gefällt ihm. Die beiden verabreden sich zu einem Kaffee und verlieben sich. Die junge Frau hilft nun jeden Sonntag im Kiosk aus. Fünf Jahre später sind sie verheiratet, Irmgard Ambühl kündigt ihren Bürojob. Das Paar kauft sich einen Marronistand am Bahnhof Luzern. Im Sommer bieten sie Sandwiches und Getränke an.
Mühlenplatz Luzern im Herbst 2019. Irmgard Ambühl wendet die Marroni in der dampfenden Pfanne. Zwischendurch stibitzt sie eine heisse Marroni, schält sie und isst sie genüsslich. Eine junge Frau kommt an den Stand. «150 Gramm bitte», sagt sie und kratzt mit kalten Fingerkuppen Münz zusammen. 5.50 Franken kostet die kleinste Portion. Ambühl überreicht ihr ein braunes Säckli und verabschiedet sie mit einem warmherzigen Lächeln. Seit über 30 Jahren betreibt sie wieder ein Marronihäuschen beim Mühlenplatz in Luzern. Ihr Mann und Geschäftspartner ist mittlerweile verstorben – aber auch ihr neuer Partner Georg Prem (75) unterstützt sie. Der Tiroler steht seit zwanzig Jahren hinter der Pfanne.
Plötzlich soll das Los entscheiden
Langweilig wird Ambühl beim
Marronibräteln nicht. Sie schätzt den ständigen Kontakt mit Menschen aus aller Welt. Rund zwei Drittel ihrer Kunden sind Touristen. Da kommt es schon mal vor, dass Ambühl aus ihrem Häuschen stürmt, weil die Gäste die Marroni samt Schale in den Mund schieben. Daneben kann sie auf zahlreiche Stammkunden zählen. «Selbst wenn sie keine Marroni kaufen, rufen sie schon von weitem Sali», freut sie sich. Die Kälte macht ihr nichts aus. Im Gegenteil: Die Luzernerin mag es, im Freien zu arbeiten. Ausserdem steht sie unter Dach, direkt neben der Marronipfanne. Und die ist feuerheiss – die Temperatur reicht bis zu 400 Grad.
Zittern musste die 62-Jährige trotzdem – um ihren geliebten Marktplatz, ihre Existenz. 2014 will die Stadt Luzern per Los entscheiden, wer eine Bewilligung für einen Standplatz erhält. Das lassen sich die Luzerner nicht gefallen und reichen eine Volksmotion für ihre Marronibrätler ein. Ambühl befürchtet Schlimmes: Wenn sie ihren Stand aufgeben muss, bliebe ihr wohl nur der Gang auf das Sozialamt. So weit kommt es nicht. Zwei von sechs Bewerbern ziehen sich aus dem Verfahren zurück.
Seit letztem Winter gibt es neu fünf statt vier Standplätze in der Stadt. Zudem gilt: Gibt es mehr Bewerber, gibt eine Experten-Jury Empfehlungen ab. Die finale Entscheidung liegt bei der Stadt Luzern. Gute Nachrichten für die Verkäuferin: «Wer jahrelang gute Arbeit leistet, wird nicht einfach so ausgetauscht», sagt sie heute.
Ambühls Standplatz ist ihr bis 2023 zugesichert. Ob sie danach nochmals vier Jahre anhängt, weiss sie noch nicht: «Das kommt auf meinen Gesundheitszustand an.» Marronibraten ist ein Knochenjob. Was einfach aussieht, verlangt Geschicklichkeit und Biss. Das Geheimnis feiner Marroni: «Schön langsam und mit viel Liebe rösten. Das Wichtigste: Rühren, rühren, rühren.»
Gallwespe ist schuld an hohen Preisen
Die Luzernerin ist von Mitte September bis Ende Dezember sieben Tage die Woche für ihre Kunden da. Von Januar bis Ende März sind es sechs Tage – montags bleibt ihr Marronihäuschen geschlossen. Im Sommer gönnen sich Ambühl und Prem eine Auszeit: «Wir verbringen dann viel Zeit in den Bergen. Am liebsten auf dem Pilatus. Dank meiner Witwenrente und der Pensionskasse meines Partners ist das möglich.» Mit dem Marroniverkauf allein würde das Paar nicht durchkommen, deswegen bietet sie an ihrem Stand auch gebrannte Mandeln, Magenbrot und Rahmtäfeli an.
Das Hauptproblem: Marroni sind teuer. Nicht nur für die Kunden, auch im Einkauf. Der Preis steigt stetig – schuld ist die ernüchternde Ernte. «Die Qualität der Marroni ist dieses Jahr zwar gut. Aber es gibt zu wenige», erklärt Renzo Strazzini. Er wird es wissen: Der 48-Jährige ist Inhaber der grössten Marroni-Import-Firma der Schweiz, der Gysi & Strazzini AG. Das Unternehmen mit Sitz in Bern beliefert schweizweit rund 60 Prozent aller Marroniverkäufer – auch Irmgard Ambühl. Seine Ware bezieht Strazzini hauptsächlich aus Italien. Und zwar Marroni und Kastanien. Beide gehören zur Familie der Nussfrüchte, Marroni sind aber eine Weiterzüchtung der Edelkastanie.
Die Ursache der schlechten Ernte ist die Gallwespe, die Marroni- wie Kastanienbäumen vor zehn Jahren stark zusetzte. Wenn die kleinen Wespen die Bäume befallen, hat das verheerende Auswirkungen: Sie verhindern die Bildung von neuen Blättern und Blüten. Dieses Jahr gab es einen starken Rückfall. Wann mit einer Besserung gerechnet werden kann, ist ungewiss.
Kastanien sind Edelmetall, Marroni Gold
«Die Auswahl an guten Marroni ist klein», so Strazzini. Die besten bekommt nur, wer mehr bezahlt. Verlust machen vor allem die Marroniverkäufer. «Wie teuer uns die Marroni in der aktuellen Saison kommen, wissen wir erst, wenn wir unsere Preise am Stand schon angeschrieben haben», erklärt Ambühl das Dilemma. Die letzten Jahre zahlte Ambühl drauf, diese Saison verlangt sie acht Prozent mehr. Ein 150-Gramm-Säckli kostete früher fünf Franken, jetzt ist es ein Füfzgi mehr.
Die spärliche Ernte führt ausserdem dazu, dass Importeure und Marroniverkäufer auf Kastanien ausweichen müssen. In Ambühls Pfanne bräteln gegenwärtig nur ein Zehntel Marroni. «Die Kastanien sind diese Saison aber unglaublich gut», beteuert sie. Die teureren Marroni – im Deutschen und Österreichischen übrigens mit einem «r» geschrieben – seien zudem anfälliger, faul zu werden. Für Strazzini hingegen steht fest: «Kastanien sind wie Edelmetall. Marroni wie Gold.» Ein talentierter Marronibrater könne aber auch Kastanien schmackhaft zubereiten. Ambühl auf dem Mühlenplatz gelingts.
Herkunft
Die meisten Marroni kommen aus Italien. Der Schweizer Grossimporteur Gysi & Strazzini AG bezieht vor allem Marroni von Bauern aus der Toskana, dem Susatal nahe Turin sowie zwei Orten in der Nähe von Rom. In der Schweiz gibt es nur sehr wenige Marroni-Bauern. Das Klima eignet sich weniger, zudem würde sich der Anbau nicht lohnen.
Bedingungen
Eine ideale Temperatur zum Gedeihen von Marroni gibt es nicht. Ein guter Erntesommer hat aber weder lange trockene noch feuchte Zeiten. Nach der Ernte müssen sie sofort gekühlt werden.
Kastanien
Gebraten sehen sie fast gleich aus. Marroni sind aber süsser, cremiger, im Schnitt grösser und haben eine geringere Bratdauer als Esskastanien. Im Alltag werden meist beide als Marroni bezeichnet.
Nährwerte
Marroni sind fettarm und reich an Nahrungsfasern. 100 Gramm Marroni enthalten knapp 200 Kalorien. Zum Vergleich: 100 Gramm Walnüsse liefern rund 650 Kalorien.
Herkunft
Die meisten Marroni kommen aus Italien. Der Schweizer Grossimporteur Gysi & Strazzini AG bezieht vor allem Marroni von Bauern aus der Toskana, dem Susatal nahe Turin sowie zwei Orten in der Nähe von Rom. In der Schweiz gibt es nur sehr wenige Marroni-Bauern. Das Klima eignet sich weniger, zudem würde sich der Anbau nicht lohnen.
Bedingungen
Eine ideale Temperatur zum Gedeihen von Marroni gibt es nicht. Ein guter Erntesommer hat aber weder lange trockene noch feuchte Zeiten. Nach der Ernte müssen sie sofort gekühlt werden.
Kastanien
Gebraten sehen sie fast gleich aus. Marroni sind aber süsser, cremiger, im Schnitt grösser und haben eine geringere Bratdauer als Esskastanien. Im Alltag werden meist beide als Marroni bezeichnet.
Nährwerte
Marroni sind fettarm und reich an Nahrungsfasern. 100 Gramm Marroni enthalten knapp 200 Kalorien. Zum Vergleich: 100 Gramm Walnüsse liefern rund 650 Kalorien.