Das auffälligste Gebäude im Zentrum von Hannover (D) ist der VW-Tower, der stillgelegte, 140 Meter hohe Fernsehturm aus den 50er-Jahren. Ganz oben prangt riesig das VW-Logo. Volkswagen ist ein mächtiger Arbeitgeber in Niedersachsen, und wenn VW leidet, dann leidet das ganze Land. Eine besondere Verbundenheit zum Konzern hat Altbundeskanzler Gerhard Schröder. Vor seiner Wahl zum deutschen Regierungschef war er Ministerpräsident von Niedersachsen und als solcher im VW-Aufsichtsrat. Nun äussert er sich erstmals zum Dieselskandal – er empfängt dazu in seiner Kanzlei, nicht allzu weit vom VW-Tower entfernt.
BLICK: Herr Schröder, fahren Sie ein Dieselfahrzeug und sind Sie damit selbst vom Skandal betroffen?
Altbundeskanzler Schröder: Ich fahre als Dienstwagen einen Diesel. Das ist natürlich ein deutscher Diesel. Ich muss allerdings gestehen, dass ich mich mit den Schadstoffwerten nie beschäftigt habe. Aber mein Fahrer – und der schwört auf diesen Audi-Diesel!
Woher kommt Ihre Verbundenheit mit dem Auto?
Mich beschäftigen immer die Arbeitsplätze und die Menschen in der Autoindustrie. Eine persönliche Passion für Autos habe ich nicht. Mein eigener Führerausweis ist uralt. Durch meine Arbeit als Parteivorsitzender, Ministerpräsident und Kanzler wurde ich immer gefahren. Davor fuhr ich Käfer und Passat. Jetzt haben wir einen Sharan.
Fahren Sie selber ab und zu?
Nie. Falls ich wieder fahren müsste, bräuchte ich eine Nachschulung. Doch ich wurde 73 und bezweifle, dass ich mir das noch antue.
Sie kennen den Autobauer von innen, waren im Aufsichtsrat von VW. Wie erklären Sie sich die betrügerische Software und die illegalen Absprachen?
Im Aufsichtsrat wird nicht über technische Vorgänge diskutiert. Dort beschäftigt man sich nicht mit operativen Details, sondern mit Strategie und wirtschaftlichen Daten. Alles andere ist Aufgabe des Vorstandes. Dort wurde bestimmt auch über die aktuellen Vorfälle gesprochen. Ob in allen Details, das weiss ich nicht.
Hat Sie der Dieselskandal überrascht?
Ja! Ich kann nicht nachvollziehen, wie solche Verfehlungen über derart lange Zeit geheim gehalten werden konnten. Es mussten viele Mitarbeiter involviert gewesen sein. Es ist aber klar, dass der Aufsichtsrat nie damit befasst wurde – auch dann nicht, als ich diesem Gremium nicht mehr angehörte.
Woher wissen Sie das?
Weil ich aus eigener Erfahrung weiss, dass dort strategische Diskussionen stattfinden. Um Technik geht es höchstens mal am Rande, zum Beispiel bei Fragen über neue Modelle. In meiner Zeit als Aufsichtsrat ging es zum Beispiel darum, ob der VW Phaeton gebaut werden soll.
Haben die VW-Manager, vergleichbar mit den Bankenchefs in der Schweiz, die Zeichen der Zeit nicht erkannt?
Die beiden Fälle kann man nicht vergleichen. Die deutsche Automobilindustrie hat nicht rechtzeitig erkannt, wie wichtig das Geschäft mit der Elektromobilität ist. Sie setzte zu wenig auf die neuen Technologien. Die Tatsache, dass Tesla so erfolgreich wurde, muss zu denken geben. Ich hätte es gern gesehen, wenn so erfolgreiche Elektroautos, wie Tesla sie anbietet, bei Volkswagen entwickelt worden wären.
Elektromobilität ist eine strategische Frage. Jetzt aber geht es um manipulierte Schadstoffwerte und um bewusste Täuschung der Kunden.
Das stimmt. Aber es wurden auch Konsequenzen gezogen. Der Vorstandsvorsitzende von VW, Martin Winterkorn, musste gehen. Das ist angemessen. Denn egal, über welche Einzelheiten er informiert war: Er trägt die Gesamtverantwortung.
Müssen weitere Köpfe rollen?
Das kann ich nicht beurteilen. Klar ist: Wer davon wusste, ist nicht mehr tragbar.
Die Autochefs treten bis heute sehr selbstbewusst, gar arrogant auf. Umweltministerin Barbara Hendricks sagt, sie vermisse Demut. Hat sie recht?
Demut ist der falsche Begriff. Die Verantwortlichen haben Fehler gemacht, und die müssen geahndet werden. Wir müssen aber aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es stimmt nicht, dass die deutsche Automobilindustrie und ihre Zulieferer ein Klub von Betrügern und bösartigen Menschen sind. Auch wenn Fehler begangen wurden, darf man doch nicht die gesamte deutsche Automobilindustrie an den Pranger stellen.
Es waren nicht einfach Fehler, die jedem mal passieren. Es war Betrug.
Und das muss bestraft werden, ganz klar. Wenn man aber die ganze Industrie verteufelt, wer sind dann die Leidtragenden? Nicht die Manager, sondern die Arbeiter, die Tag für Tag am Band stehen und deren Existenz von der Autoindustrie abhängt. Um die müssen wir uns kümmern! Das ist die Aufgabe der Politik.
Die deutsche Autoindustrie beschäftigt 800'000 Menschen. Wie viele Jobs sind in Gefahr?
Ich hoffe, dass sich die Diskussion beruhigt und dass die Industrie Konsequenzen zieht. Massnahmen wie Software-Updates scheinen nicht zu reichen. Aber sie haben nachgelegt und beginnen, Rabatte zu finanzieren für den Umtausch von dreckigen zu sauberen Fahrzeugen. Das geht zulasten der Autokonzerne und ist auch korrekt so.
Die Rabatte sind ein grosses Ankurbelungsprogramm in eigener Sache.
Das ist ja auch okay.
Die «Bild»-Zeitung schrieb, dieser Dieselgipfel sei ein Gipfel der Feigheit.
Das stimmt nun wirklich nicht! Es ist deutlich geworden, dass die deutschen Autobauer ein Umrüstungsprogramm finanzieren, über diese Rabatte für Neuwagen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Herr Schröder, echte Empörung über den Dieselskandal ist bei Ihnen nicht herauszuhören.
Bei mir hört man Empörung über Fehler, die vom Management begangen wurden. Aber mein Denken kreist um diejenigen, die mir näher stehen: die Menschen, die jeden Tag in den Fabriken arbeiten oder bei den Zulieferern.
Politiker sind seltsam zahm gegenüber den Autobossen. Sind alle in Geiselhaft, weil es um viele Arbeitsplätze geht?
Die Politik muss dafür sorgen, dass die Wirtschaft läuft. Denn an der Wirtschaft hängt die Existenz aller Menschen. Also kann man der Politik nicht den Vorwurf machen, wenn sie sich um die wichtigsten Industriebranchen kümmert.
Würde derselbe Skandal Hedgefonds-Manager oder Rohstoffhändler betreffen, dann würden sie also nicht mit Samthandschuhen angefasst?
Na ja, auch die Autoindustrie wird gegenwärtig von den Medien nicht mit Samthandschuhen angefasst. Der Anteil industrieller Arbeitsplätze ist mit über 20 Prozent in Deutschland sehr hoch. In Grossbritannien und Frankreich liegt dieser Wert bei zehn bis zwölf Prozent. Darauf war ich immer stolz. Nochmals: Der Vorwurf, dass man sich zu stark um Arbeitsplätze kümmere, ist lächerlich. Und was auch auffällt: In Frankreich oder Japan, bei den Konkurrenten, findet keine Diskussion über Dieselantriebe statt.
Unterstellen Sie anderen Autokonzernen, dass sie ebenfalls tricksten?
Die Frage ist: Was ist an Absprachen erlaubt und was nicht? Natürlich gibt es unter Autoproduzenten gemeinsame Diskussionen über technische Angelegenheiten. Wo die Grenze zwischen Diskussion und kartellähnlichen Absprachen liegt, muss die Kartellbehörde prüfen.
Wie gross ist die Gefahr von Milliardenbussen durch die EU-Wettbewerbskommission?
Das müssen Sie diese fragen. Ich werde nicht spekulieren.
Sie wurden «Autokanzler» genannt …
… zu Recht.
Welche Druckversuche der Autoindustrie haben Sie erlebt?
Keine. Und ich hätte mich auch nicht erpressen lassen. Wir diskutierten zum Beispiel Fragen, welche Art von Kraftwerk es für die Produktionsstätten braucht. Den damaligen Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch muss ich ausdrücklich loben. Ich halte ihn für einen genialen Vertreter der Automobilindustrie. Er führte immer sehr offene, aber auch wegweisende Gespräche. In den 1990er-Jahren führte er das Unternehmen aus einer tiefen Misere zu grossem Erfolg. Ich hätte ihn nicht ersetzt. Mit ihm wäre jetzt vielleicht das eine oder andere besser gelaufen.
Was würden Sie in der jetzigen Krise tun, wenn Sie Kanzler wären?
Ich will niemandem den Urlaub vermiesen. Aber ich hätte da schon persönlich die Führung übernommen. Das Ganze ist viel zu wichtig. Ich entnahm den Medien, dass der eine oder andere Manager am Dieselgipfel sehr bestimmt, gar arrogant aufgetreten sein soll. Das hätte ich mir nicht gefallen lassen. Die hätte ich aus der Sitzung rausgeschmissen.
Wem nützt der Dieselskandal im Wahlkampf?
Niemandem. Er sorgt für Frust bei allen.
Derzeit muss Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil viel Kritik einstecken, weil er sich seine Regierungserklärung zum Dieselskandal von VW absegnen liess. Sie waren einer seiner Vorgänger. Hätten Sie das auch so gemacht?
Ich verstehe diese Kritik nicht. Stephan Weil hat die Interessen des Landes zu vertreten, also auch die wirtschaftlichen Interessen. Ob einem das gefällt oder nicht: VW ist ein wichtiger Akteur in Niedersachsen. Zudem ist Weil Mitglied des VW-Aufsichtsrates. In dieser Funktion ist er rechtlich verpflichtet, das Wohl des Unternehmens zu respektieren.
Als Ministerpräsident muss er die Interessen des Landes wahren, als Aufsichtsrat die von VW: eine schwierige Situation.
Ministerpräsidenten, Minister oder gar Kanzler sind immer in schwierigen Situationen (lacht).
Trotzdem: Geht es nicht zu weit, wenn ein Unternehmen eine Regierungserklärung zensiert?
Wenn der Ministerpräsident eine öffentliche Regierungserklärung im Landtag abgeben muss, dann ist es sinnvoll, wenn er sie mit dem Unternehmen abstimmt. Er darf es nicht schwächen, etwa in dessen Position gegenüber den USA. Dazu verpflichtet ihn das Aktienrecht.
Hätten Sie sich also auch abgesprochen?
Ja, natürlich, soweit es sich um unternehmensrelevante Passagen handelt. Genauso haben es meine Nachfolger im Aufsichtsrat – von der CDU-FDP-Regierung entsandt – auch getan, wie wir jetzt erfahren haben.
Und haben Sie es in Ihrer Zeit als Ministerpräsident mal gemacht?
Soweit ich mich erinnere, nein.
Ist es sinnvoll, dass Niedersachsen 20 Prozent der VW-Aktien hält?
Ja. Niedersachsen kann aufgrund der Statuten nicht überstimmt werden. Das kann schon mal Auswirkungen auf die Frage haben, wo ein neues Werk gebaut wird.
Das nennt man dann Staatswirtschaft.
Nein, denn wir haben uns nie in operative Geschäfte eingemischt. Niedersachsen ist de facto Ankeraktionär, und das hat eine beruhigende Wirkung, etwa wenn eine Übernahme drohen würde. Mit den Familien Porsche und Piëch gibt es weitere Grossaktionäre, und auch die Beteiligung durch Qatar macht Sinn.
Wie gross ist jetzt der Imageschaden für deutsche Autos?
Natürlich gibt es einen Imageschaden. Aber er wird nicht dazu führen, dass niemand mehr deutsche Autos kauft. Nun braucht es Anstrengungen, dass die Schadstoffwerte so niedrig wie möglich gehalten werden. Und beim Anteil an Elektrofahrzeugen müssen wir uns weiter steigern. Selbst die Grünen sind zufrieden mit dem Anteil der deutschen Elektrofahrzeuge in Norwegen oder in den USA. Es ist also nicht alles falsch, was in den letzten Jahren lief.
Ist Elektromobilität der Königsweg?
Es ist ein Weg. Ob es der Königsweg ist, wage ich zu bezweifeln. Die Möglichkeiten des Verbrennungsmotors sind längst nicht ausgeschöpft. Man muss sich auch in Erinnerung rufen, dass Elektrizität ebenfalls hergestellt werden muss. Kernenergie wollen wir nicht. Kohle soll weg. Aber nur aus der Steckdose kommt nix!
Würden Sie jetzt Aktien der Autofirmen kaufen?
Ich habe keine Aktien. Mir fehlt die Zeit, mich damit zu beschäftigen.
Benzin oder Diesel?
Derzeit Diesel.
Selber fahren oder chauffiert werden?
Chauffiert werden.
Strasse oder Bahn?
Nach Berlin fahre ich nur mit der Bahn.
Limousine oder Sportwagen?
Limousine. Da kann ich besser lesen und schlafen.
Geschaltet oder Automat?
Automatik.
Beim Auto: schwarz oder rot?
Schwarz.
Benzin oder Diesel?
Derzeit Diesel.
Selber fahren oder chauffiert werden?
Chauffiert werden.
Strasse oder Bahn?
Nach Berlin fahre ich nur mit der Bahn.
Limousine oder Sportwagen?
Limousine. Da kann ich besser lesen und schlafen.
Geschaltet oder Automat?
Automatik.
Beim Auto: schwarz oder rot?
Schwarz.
Als «Autokanzler» wurde Gerhard Schröder (73) häufig bezeichnet. Der Bundeskanzler der Jahre 1998–2005 hat eine besondere Nähe zur Autoindustrie: Niedersachsen – das Schröder acht Jahre lang regierte – hält 20 Prozent am Aktienkapital von VW, dem wichtigsten privaten Arbeitgeber des Bundeslandes. Deshalb ist der niedersächsische Ministerpräsident von Amtes wegen Mitglied des VW-Aufsichtsrats. SPD-Mann Schröder wuchs in bescheidensten Verhältnissen auf, lernte zuerst Kaufmann und wurde auf dem zweiten Bildungsweg Anwalt und schon sehr früh Politiker (u. a. Juso-Chef). Heute ist er der einzige lebende deutsche Altkanzler, er arbeitet wieder als Anwalt und Berater, unter anderem für die Ringier AG, die SonntagsBlick herausgibt.
Als «Autokanzler» wurde Gerhard Schröder (73) häufig bezeichnet. Der Bundeskanzler der Jahre 1998–2005 hat eine besondere Nähe zur Autoindustrie: Niedersachsen – das Schröder acht Jahre lang regierte – hält 20 Prozent am Aktienkapital von VW, dem wichtigsten privaten Arbeitgeber des Bundeslandes. Deshalb ist der niedersächsische Ministerpräsident von Amtes wegen Mitglied des VW-Aufsichtsrats. SPD-Mann Schröder wuchs in bescheidensten Verhältnissen auf, lernte zuerst Kaufmann und wurde auf dem zweiten Bildungsweg Anwalt und schon sehr früh Politiker (u. a. Juso-Chef). Heute ist er der einzige lebende deutsche Altkanzler, er arbeitet wieder als Anwalt und Berater, unter anderem für die Ringier AG, die SonntagsBlick herausgibt.