«Die Politik hat die Lohnfortschritte zunichte gemacht!» Dies bilanziert der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) in seinem neusten Verteilungsbericht. Höheren Abgaben hätten die Lohnerhöhungen fast vollständig weggefressen.
Wer heute brutto 3000 Franken verdient, liefert dem Staat laut SGB-Berechnung rund 1000 Franken ab. Neben Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen schlagen vor allem die Krankenkassenprämien zu Buche.
Teure Krankenkassen
Tatsächlich: Die Krankenkassenprämien haben sich seit 1997 fast verdoppelt. Die Prämienverbilligungen haben damit nicht Schritt gehalten. Folge: Obwohl die untersten Löhne um rund 600 Franken pro Monat stiegen, haben die Leute am Schluss nicht mehr im Portemonnaie.
Anders sieht es oben aus. Die Topeinkommen haben laut SGB von grosszügigen Steuersenkungen profitiert.
Der SGB kritisiert eine zunehmende Ungleichheit: «Die 2,1 Prozent Reichsten besitzen in der Schweiz gleich viel wie die restlichen 97,9 Prozent.» Die Schweiz liege damit international auf einem Spitzenplatz, heisst es in der Studie.
SGB fordert höhere Steuern für Reiche
Die Forderungen der Gewerkschaften: Höhere Steuern für die Reichen, mehr Geld für die Prämienverbilligung für die Armen und den unteren Mittelstand. Die Ausgaben für die Krankenkasse dürfe nicht mehr als 8 Prozent des steuerbaren Einkommens ausmachen.
Die Caritas teilt die SGB-Diagnose. «Die verfügbaren Einkommen der untersten Schicht sind zum Teil deutlich rückläufig», sagt Bettina Fredrich (42), Leiterin Sozialpolitik bei der Caritas.
Auch sie sieht den Hauptgrund bei den Gesundheitskosten: Die Kantone hätten die Prämienverbilligungen in den letzten fünf Jahren um 170 Millionen Franken gekürzt. «Dadurch rutschen auch Mittelstandsfamilien in die Armut ab.»
Die Folge sei, dass deshalb immer mehr Leute nicht mehr zum Arzt gingen, weil ihnen das Geld fehlt. «Der Zugang zu nötigen medizinischen Leistungen darf nicht am Portemonnaie scheitern. Die Folgekosten steigen so nur an», sagt Fredrich.
«Bessere medizinische Leistungen»
Ganz anders die Einschätzung des liberalen Think Tanks Avenir Suisse. «Die Gewerkschaften sind sehr kreativ, um die gewünschten Aussagen zu erhalten», sagt Marco Salvi (47). «Die Grafik unterschlägt, dass die medizinischen Leistungen heute viel besser und die Wohnungen grösser und komfortabler sind. Man erhält mehr und zahlt mehr.»
Salvi bestreitet auch, dass die Ungleichheit immer schlimmer werde. «Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir eine stabile Einkommensverteilung», sagt er. Die Globalisierung habe zwar dazu geführt, dass die Einkommen ganz oben in die Höhe geschnellt seien. Aber auch im Mittelstand und unten seien die Löhne gestiegen.
Zudem sei die Schweiz eine durchlässige Gesellschaft. Salvi: «Die wenigsten verharren ein Leben lang in einer Einkommensklasse.“