Schon die alten Römer wussten: «Geld stinkt nicht!» Doch Corona bringt dieses klassische Credo ins Wanken – zumindest, was Bargeld anbelangt. Aus Angst, das Virus könne sich durch Noten und Münzen weiterverbreiten, heisst es dieser Tage in Läden, Restaurants und Cafés: «Bitte mit Karte bezahlen!»
Die Schweiz tut es. Immer mehr Konsumenten verzichten auf Cash. In der Migros begab sich in der ersten Lockdown-Woche gar Historisches: «Zum ersten Mal überhaupt wurden in unseren Supermärkten mehr Einkäufe mit der Karte oder dem Smartphone bezahlt statt mit Bargeld», so ein Sprecher auf Anfrage von SonntagsBlick.
Bis zu 60 Prozent Kartenzahlungen
Vor Corona zahlten knapp 60 Prozent der Kunden des orangen Riesen für ihre Einkäufe in bar. Während des Lockdowns wendete sich das Blatt: Plötzlich wurden bis zu 60 Prozent der Zahlungen elektronisch beglichen. Seit Ende des Lockdowns greifen zwar wieder mehr Kunden zum Bargeld. Doch elektronische Zahlungsmittel behielten die Oberhand. Zuletzt bezahlten 51 Prozent der Kunden mit Karte oder Smartphone. Ganz ähnlich das Bild beim grossen Konkurrenten Coop. Eine Sprecherin: «Mittlerweile zahlen mehr als die Hälfte unserer Kundinnen und Kunden bargeldlos.»
Tobias Trütsch (34), Ökonom an der Universität St. Gallen (HSG), hat sich auf das Zahlungsverhalten spezialisiert. Er ist überzeugt: «Bargeld wird in den kommenden Jahren an Bedeutung verlieren. Corona beschleunigt diese Entwicklung massiv. Viele haben sich in der Krise an neue Zahlungsmethoden gewöhnt und werden diese auch in Zukunft beibehalten.»
Diese Einschätzung bestätigen neue Zahlen von Twint. Der Anbieter einer Handy-Bezahllösung hat von der Krise enorm profitiert: «Die steigenden Hygieneansprüche beflügeln die Nachfrage nach mobilen Zahlungsmitteln, bei denen weder Bargeld verwendet noch eine Karte mit Code eingegeben werden muss.»
45'000 neue Nutzer pro Woche bei Twint
Während des Lockdowns hätten sich pro Woche bis zu 45'000 neue Nutzer bei Twint registriert. Vor der Krise seien es im gleichen Zeitraum lediglich rund 20'000 User gewesen. «Dieses Wachstum ist seit dem Höhepunkt der Corona-Krise bisher kaum zurückgegangen», so das Unternehmen weiter. Mittlerweile habe Twint mehr als 2,5 Millionen Nutzer.
Schweizer Geldautomaten dagegen fristeten in den vergangenen Wochen und Monaten ein ungewohnt einsames Dasein. «Während des Lockdowns haben sich die Geldbezüge an unseren Bancomaten ungefähr halbiert», sagt eine Sprecherin der Post. Seit den Lockerungen Mitte Mai habe sich die Situation zwar wieder etwas erholt. Man sei aber noch immer rund 20 Prozent unter dem Vor-Corona-Niveau.
Raiffeisen beobachtet eine ähnliche Entwicklung. Die Genossenschaftsbank geht inzwischen davon aus, dass sich die Anzahl der Bargeldbezüge auf einem tieferen Niveau einpendeln werde als vor Beginn des Shutdowns.
Die Zürcher Kantonalbank (ZKB) ergriff wegen der abnehmenden Bargeld-Nachfrage bereits Massnahmen: «Wir haben entschieden, die bedienten Bargeldservices bei rund der Hälfte unserer Standorte nicht mehr anzubieten», so ein Sprecher. Für Ein- und Auszahlungen müssen die von der Änderung betroffenen Kunden in Zukunft mit Automaten vorliebnehmen.
Die ZKB-Massnahme hat Symbolcharakter: Die Finanzbranche begrüsst und befeuert das Ende des Bargelds. Ihr wesentliches Motiv: Bargeld-Handling ist personal-, raum- und zeitintensiv. Mit anderen Worten: teuer.
Banken verdienen an bargeldlosen Zahlungssystemen
Hinzu kommt, dass die Banken an der Verbreitung bargeldloser Zahlungssysteme mitverdienen. Die Aktionäre der Mobile-Bezahl-App Twint heissen Credit Suisse (CS), Raiffeisen, UBS, ZKB und Post. Und auch an der SIX Payment Services AG, die fast alle Schweizer Geschäfte und Restaurants mit Bezahlterminals ausrüstet, sind CS, Raiffeisen und UBS über Umwege beteiligt.
HSG-Zahlungsforscher Trütsch: «Für die Schweizer Banken wäre das Ende des Bargelds ein Segen.» Doch auch die grossen Detailhändler hätten ein Interesse an einer bargeldlosen Gesellschaft, so der Ökonom: «Für das tägliche Leeren und Füllen der Supermarktkassen bezahlen sie ebenfalls viel Geld.»
Auch der bargeldlose Zahlungsverkehr ist für die Händler nicht gratis. Gemäss Schätzungen von Trütsch musste der Handel in der Schweiz 2019 rund 500 Millionen Franken Gebühren für Debit- und Kreditkartentransaktionen abdrücken.
Seit Jahren wird über die Höhe dieser Gebühren gestritten. Fakt ist: Grosse Player wie Migros, Coop und Co. haben im Ringen um tiefe Gebühren grosse Vorteile. Aufgrund ihrer Grösse können sie mit den Anbietern der elektronischen Bezahldienstleistungen – Mastercard, Visa, Twint, SIX Payment Services – bessere Konditionen aushandeln. Trütsch: «In der Tendenz bezahlen ein Dorflädeli oder ein kleines Restaurant prozentual deutlich höhere Transaktionsgebühren als die grossen Player.»
Die kleinen Händler haben deshalb an der Vision einer bargeldlosen Gesellschaft wenig Freude. Doch der Trend dürfte sich kaum umkehren lassen. Denn auch ein weiterer mächtiger Akteur sehnt ein Ende des Bargelds herbei: der Staat. Sein Kalkül: Eine vollelektronische Welt bringt mehr Transparenz. Sie erschwert Schwarzarbeit, kleine oder grosse Tricksereien bei den Steuern und die Geldwäsche des organisierten Verbrechens.