Als Johann Schneider-Ammann noch Wirtschaftsminister war, betonte er oft, dass in der Schweiz mit knapp über zwei Prozent Arbeitslosen praktisch Vollbeschäftigung herrsche. Das, so berichtet die «Aargauer Zeitung», sei nur die halbe Wahrheit. Die international vergleichbare Erwerbslosenquote liege mit 4,9 Prozent mehr als doppelt so hoch.
In dieser Zahl seien nicht nur Leute vermerkt, die bei den Arbeitsämtern verzeichnet sind, sondern alle Stellensuchenden, also auch Sozialhilfebezüger, berufliche Wiedereinsteiger und auch jene, die keine Lust auf den Gang zum Arbeitsamt haben.
Vor fünf Jahren noch hatte die Schweiz im Vergleich mit der EU die tiefste Arbeitslosenquote aller 29 Mitgliedstaaten. Inzwischen ist sie auf den 13. Rang zurückgefallen. Vor ihr rangieren auch Länder, die man eher mit wirtschaftlicher Rückständigkeit gleichsetzt: Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen, Tschechien, Estland, Slowenien, Malta, aber auch Deutschland, Österreich Grossbritannien und die Niederlande.
Sündenbock Zuwanderung?
Für die SVP, so die Zeitung, sei der freie Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU Schuld an diesem Abstieg. Ältere Schweizer Arbeitnehmer würden zunehmend entlassen und durch günstigere ausländische ersetzt.
Dem hält der Arbeitsökonom Michael Siegenthaler von der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich entgegen, dass die Einwanderung «gesamtwirtschaftlich eindeutig eine Ergänzung zu den inländischen Arbeitskräften ist.»
Auch andere Ökonomen wiesen darauf hin, dass mehr als die Hälfte der europäischen Zuwanderer über einen Studienabschluss verfüge. Dagegen seien vor allem schlecht Qualifizierte von Arbeitslosigkeit betroffen.
Schweiz noch immer konkurrenzfähig
Dass Länder wie Polen, Tschechien oder Rumänien heute über tiefere Erwerbslosigkeit verfügen, liege eher daran, dass sie dank der Personenfreizügigkeit ihre Arbeitslosigkeit exportieren konnten.
Der Chefökonom der Economiesuisse Rudolf Minsch führt die höhere Arbeitslosigkeit der Schweiz vor allem auf das hohe Lohnniveau zurück. In Deutschland zum Beispiel arbeite jeder fünfte Arbeitnehmer im Tieflohnsektor, in der Schweiz ist es nur jeder zehnte. Es bestehe die Gefahr, dass viele schlecht bezahlte Unqualifizierte bei der nächsten Rezession wieder ihren Job verlieren.
Die Fortschritte anderer Länder sehen die Ökonomen nicht als Warnsignal für die Schweiz. Die Schweiz nehme jährlich Tausende von neuen Arbeitskräften auf, die hiesige Erwerbslosenquote dagegen bewege sich kaum. Das zeige, dass die Schweiz weiterhin sehr konkurrenzfähig sei. (kes)