Die Fraumünster-Kirche in Zürich ist bis auf den letzten Platz gefüllt, an der Rückwand und in den Gängen stehen die Trauernden dicht gedrängt. Die Witwe Guen Soo Senn, ihre beiden erwachsenen Kinder, Freunde, Vertreter aus Wirtschaft und Politik nehmen Abschied von Martin Senn.
Die Schweiz AG trauert um einen ihrer besten Vertreter. Nationalbank-Präsident Thomas Jordan, CS-Chef Tidjane Thiam, Swiss-Re-Lenker Walter Kielholz, fast die gesamte Wirtschaftselite verneigt sich vor Martin Senn.
Der langjährige Chef der Zürich-Versicherung hatte sich vor zehn Tagen in seiner Ferienwohnung in Klosters GR erschossen. Sechs Monate zuvor hatte ihn die Zurich plötzlich seines Postens enthoben.
«Martin wurde hereingelegt»
Die abrupte Absetzung am 1. Dezember hat Senn nicht verkraftet. «Dass er seine Arbeit als CEO nicht weiterführen konnte, traf ihn tief – vielleicht gerade deshalb, weil er sich so unbedingt mit seinen Aufgaben und identifiziert hatte», sagt Pfarrer Niklaus Peter.
Deutlicher wird Senns Freund Marwan Shakarchi: «Martin wurde hereingelegt», sagt er vor der Trauergemeinde. Es sei ausgemacht gewesen, dass die Zurich einen Nachfolger für Senn suche und die Ablösung regulär erfolge. Aber der Verwaltungsrat habe sich nicht daran gehalten: «Konzerne haben keine Seele», so Shakarchi.
Weil er ein anständiger Mensch gewesen sei, habe Senn die Absetzung ohne Kampf akzeptiert. «Aber er hat es vom ersten Moment an bereut.» Senn, der Perfektionist, sei nicht bereit gewesen, ein solches Ende zu akzeptieren. «Mister Proper war zu stolz», so Shakarchi.
Zwei Tage vor seinem Tod habe er noch mit Senn Golf gespielt. Senn habe gesagt, es gehe ihm nicht gut. «Ich habe nicht verstanden, was er mir sagen wollte», sagt Shakarchi mit tränenerstickter Stimme.
Senn erzählte Geschichten von Tolstoi
Bewegend auch die Worte von Philipp Hildebrand. Hinter seinem eisernen Willen und seiner unbedingten Disziplin sei er ein Mensch mit grossem Herzen gewesen. «Ein Opfer zu lange zu tragen, verwandelt ein Herz in einen Stein», zitiert der frühere Nationalbank-Präsident den Dichter William Butler Yeats. «Martin konnte es nicht ertragen, dass sein gutes Herz zu Stein wird.»
Senns Sohn Patrick erzählte, wie sein Vater ihm und seinen Freunden als Kind am Küchentisch Geschichten von Tolstoi vorgelesen habe. Etwa «Wie viel Land braucht ein Mensch?», eine Parabel über Ehrgeiz, Gier und Tod.
Er selbst habe als Missionar in armen Länder über Jesus gepredigt, was nicht eben das sei, was sonst die Söhne von CEOs beruflich tun. «Aber mein Vater hat mich akzeptiert, er hat mir immer gesagt, wie stolz er auf mich sei.»
Als Manager ohne Fehl und Tadel
In bescheidenen Verhältnissen in Binningen BL aufgewachsen – der Vater war Maschinenmechaniker, die Mutter Köchin –, schaffte es Senn ganz nach oben. Er machte eine Banklehre beim damaligen Bankverein, mit 26 war er bereits Finanzchef der Hongkong-Filiale der Bank und Chef von 150 Angestellte.
Später sanierte Senn das marode Finanzportfolio der Swiss Life, führte die Zurich als Investment-Chef souverän durch die Finanzkrise und qualifizierte sich für höchste Weihen: 2009 wurde er CEO der Zurich. Er führte den Versicherer solide. Kein Quartal unter ihm war negativ. Doch die Investoren verlangten nach mehr: nach Risiko, grossen Übernahmen, forschen Ankündigungen. Dafür war der grundsolide Senn der falsche Mann.
Martin Senn war ein tief gläubiger Mensch. «Gottes Liebe ist grösser als diese Tragödie», sagt sein Sohn Patrick. «Der Tod ist nicht das letzte Kapital im Leben meines Vaters.»