BLICK: Der BLICK schrieb im Jahr 2007, Sie seien ein Grüner. Zu Recht?
Hans Jöhr: Was heisst grün? Ich bin ein Bauernsohn und war selber Bauer. So habe ich gelernt, wie viele Fehler man machen kann, wenn man nicht vorsichtig umgeht mit natürlichen Ressourcen wie Boden und Wasser. Wir haben teilweise grosse Fehler gemacht in der Vergangenheit. In vielen Ländern konnten wir aber eine Wende einleiten. Nestlé ist sich seiner Verantwortung bewusst.
Tatsächlich? Nichtregierungsorganisationen kritisieren Nestlé und multinationale Konzerne, die Kleinbauern in die Abhängigkeit zu führen, Preise zu drücken und die Umwelt zu verschmutzen.
Ich kenne die Leute der NGOs, teilweise sitzen wir in den gleichen Gremien. Wir respektieren uns sehr, und ich denke, sie wissen sehr gut, dass die Vorwürfe so pauschal nicht stimmen. Wir müssen aber mehr gegen aussen kommunizieren, mehr Transparenz schaffen und den Leuten zeigen, was wir tun und wie wir es tun.
Als Bub hatte Hans Jöhr (59) einen Traum. Er wollte Bauer werden. Und zwar nicht einer mit ein paar Kühen und Hühnern, sondern ein richtiger Farmer. Deshalb wanderte der Berner als junger Mann nach Brasilien aus und verwirklichte sich seinen Traum. Gleichzeitig machte er einen Doktor in Wirtschaftswissenschaften, arbeitete in der Forschung und hatte eine Beratungsfirma. Im Jahr 2000 wechselte Jöhr zu Nestlé. Als Landwirtschaftschef muss er dafür schauen, dass der Kon-zern zu den nötigen Rohstoffen kommt. Wo diese auf dem Markt nicht erhältlich sind, geht Jöhr direkt auf die Bauern zu. 700000 Bauern arbeiten heute für ihn.
Herr Jöhr, was haben Sie verändert bei Nestlé?
Zusammen mit Fritz Häni, dem Vater von IP Suisse, habe ich Richtlinien für eine nachhaltige Landwirtschaft aufgebaut. Alle haben gesagt, das koste zu viel, und verlangten, dass wir einen Business Case entwickeln. Das haben wir dann getan.
Wie?
Wir haben Danone und Unilever ins Boot geholt und die Plattform für nachhaltige Landwirtschaft gegründet. Heute gehören über 60 der grössten Lebensmittelverarbeiter dazu. Das ist ein Exportschlager für die Schweizer Landwirtschaft. Wir haben die Nachhaltigkeit, die wir bei uns kennen, in der ganzen Welt verbreitet.
Warum haben Sie nicht einfach die Richtlinien für Fairtrade oder Bio übernommen?
Das sind Nischenmärkte. Sie decken nur drei oder vier Prozent der weltweiten Produktion ab.
Aber Sie hätten die Fairtrade-Landwirtschaft ausbauen können.
Das ist nicht zwingend der richtige Weg. Man muss aufpassen, dass man nicht die Zertifizierer oder den Handel bezahlt, sondern dass das Geld wirklich zu den Bauern kommt.
Ist das nicht so bei Fairtrade?
Leider nicht unbedingt. Man kann sogar Armut zertifizieren mit solchen Labels. Ich bin nicht gegen das Konzept des fairen Handels, ich bin nicht gegen die Idee. Die Frage ist aber, wie man sie umsetzt. Da ist heute nicht immer optimal.
Und bei Ihnen profitieren die Bauern?
Letztes Jahr haben wir mit über 300000 Bauern Ausbildung gemacht. Das ist kein karitativer Beitrag, sondern wir befähigen die Bauern, bessere Qualität zu liefern. Wir sind auf Rohstoffe höchster Qualität angewiesen.
Die NGOs sagen, dass das nicht reiche. Die Firmen müssten höhere Preise zahlen.
Das tun wir auch. Unter Umständen zahlen wir den Kaffeebauern um 30 oder 40 Prozent höhere Preise als der Markt. Bei Nespresso haben wir vor zehn Jahren das Triple-A-Programm aufgebaut. 65000 Kleinbauern sind registriert. Wir verbessern zusammen mit ihnen die Anbaumethoden, dafür erhalten sie höhere Preise. Die Konsumenten bezahlen für ein Premium-Produkt. Deshalb ist es nichts als fair, wenn auch die Produzenten höhere Preise erhalten.
Nespresso ist aber nur ein kleiner Teil.
Nur eine von hundert Bohnen geht weltweit in eine Kapsel, das stimmt. Wir brauchen aber auch in anderen Bereichen Top-Qualität. Jede Sekunde werden heute 5500 Tassen Nescafé getrunken. Was passiert, wenn es eines Tages 10000 Tassen sind? Was müssen wir tun, um dann genügend Kaffee zu haben? Das geht nur, wenn wir die Bauern ausbilden.
Jöhr führte schon Hollywood-Star George Clooney durch Kaffeeplantagen. «George» habe genau wissen wollen, was Nestlé tue, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und Kinderarbeit zu verhindern. Rund zehn Prozent der weltweiten Ernte von Kaffee und Schokolade landen bei Nestlé. In seinem Büro in Vevey VD zeigt Jöhr die Broschüren, welche der Konzern den Bauern abgibt. Vieles ist gezeichnet, denn viele Bauern können weder lesen noch schreiben. Das behindert Fortschritte bei Produktivität und Qualität. Nestlé investiert deshalb in Schulen. An der Elfenbeinküste baut der Konzern 40 Primarschulen.
Was ist Ihre Haltung zu Gentech?
Es kann ein Werkzeug sein.
Propagieren Sie Gentech-Saatgut?
Nein, wir gehen differenziert vor. Eine Technologie kann Vorteile oder Nachteile haben. Persönlich habe ich das Gefühl, dass die Gentechnologie bereits überholt ist. Sowohl in der Pflanzenzucht wie in der Tierzucht gibt es heute Methoden, mit denen man den Bauern besser helfen kann.
Was halten Sie von biologischer Landwirtschaft?
Bio kann für die Bauern eine gute Lösung sein, wenn die Konsumenten willens sind, die höheren Preise zu zahlen. In der Schweiz ist das der Fall.
Kann Bio eine Lösung für die Welt sein?
Man kann nicht ein Rezept aus der Schweiz oder aus Westeuropa auf die ganze Welt anwenden und sagen, es müsse alles Bio werden. Die biologische Landwirtschaft braucht mehr Ressourcen. Zudem ist sie sehr wissensintensiv, in Ländern mit vielen Analphabeten funktioniert sie nicht.
In China haben Sie gestern ein Milchwirtschaftsinstitut mit einem Modellbetrieb mit 1000 Kühen eingeweiht. Was lehren Sie den Chinesen?
Wir helfen ihnen, gute Milchbauern zu werden. Dafür geben wir ihnen das weiter, was wir an der Landwirtschaftsschule in der Schweiz gelernt haben. In ganz China gibt es keine solchen Schulen.
Industrialisieren Sie die chinesische Landwirtschaft?
Ja, aber im Rahmen. Die Chinesen wollten zuerst Betriebe mit 10000 Tieren. Wir sagten, das sei zu gross. Man kann nicht von einem alten Velo auf einen Ferrari umsteigen, sonst kommt es zum Crash. Wir wollen Familienbetriebe, die Bauern müssen auch die Besitzer sein, nicht irgendein anonymer Investor. Nur so stellen wir sicher, dass das Wissen auch an die nächste Generation weitergegeben wird.
Nestlé geht ein grosses Risiko ein. Die Chinesen gehen gerne auf ausländische Firmen los, wenn mal etwas schiefläuft.
Während der Krise um mit Melamin gepanschte Milch im Jahr 2008 waren wir die Einzigen, die kein Problem hatten. Wir haben eine strikte Qualitätskontrolle und können nachweisen, woher die Milch kommt.
Vertragen die Chinesen überhaupt Milch?
Die Laktose-Unverträglichkeit ist ein Mythos. Sonst würde die Nachfrage kaum so durchs Dach gehen. Wenn die chinesische Regierung von der Ein-Kind-Politik wegkommt, wird die Nachfrage nochmals dramatisch steigen. Dadurch würde ein zusätzlicher Kindernahrungsmarkt von der Grösse Europas hinzukommen. Auch die Schweizer Bauern können davon profitieren.
Sie sehen Exportchancen?
Natürlich. Wir kaufen schon heute viel Schweizer Milch ein und schicken sie verarbeitet nach China. Die Chinesen wollen nicht billige Milch, sondern Qualitätsprodukte. Sie haben einen extremen Respekt vor der Schweiz, weil sie als sauber gilt und eine intakte Natur hat. Sie denken, aus diesem Umfeld kämen die besten Produkte.
Das behaupten auch die Schweizer Bauern. Ihre Werbung behauptet, wir hätten die besten Produkte.
Wir haben hervorragende Äpfel und gute Milchprodukte. Aber beim Fleisch ist Südamerika besser.