Die Corona-Pandemie verursacht ein finanzielles Desaster historischen Ausmasses. Nahezu alle Prognosen sind niederschmetternd.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet mit neun Billionen Dollar Verlust für die Weltwirtschaft. Die Welthandelsorganisation (WTO) prophezeit ein Drittel weniger Warenverkehr. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) sieht einen Einbruch der Schweizer Wirtschaftsleistung um bis zu zehn Prozent voraus und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um bis zu sieben Prozent. Mit anderen Worten: Wir steuern in die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Grossen Depression vor 90 Jahren.
Und das trotz der 8000 Milliarden Dollar, die Regierungen bereits weltweit für Nothilfen gesprochen haben. Schon heute ist deshalb klar: Es kommt noch mehr. «Geben Sie so viel aus, wie Sie können», rief IWF-Chefin Kristalina Georgiewa (66) am Mittwoch den Regierenden zu und forderte sie auf, umfassende Konjunkturprogramme auf den Weg zu bringen.
Die SP Schweiz ist entschlossen, diesem Aufruf Folge zu leisten. Sie will ein grosses Investitionsprogramm auflegen, das insbesondere Angestellte im Tieflohnsektor unterstützt, zudem Selbständige und Frauen. Die Finanzierung soll unter anderem durch höhere Steuern für Vermögende sichergestellt werden.
Ein grünes Konjunkturprogramm
Auch die Grünen wollen ein neues Konjunkturprogramm – im Rahmen eines «Green Deal» zur Stärkung des Klimaschutzes.
Auf Bundesebene kündigte SP-Umweltministerin Simonetta Sommaruga (59) im SonntagsBlick bereits vor einer Woche Investitionen an – unter anderem auf dem Sektor erneuerbare Energien.
SonntagsBlick weiss: Als Sofortmassnahme für Klima und Wirtschaft gibt Sommarugas Departement 46 Millionen Franken für den Zubau von Solaranlagen frei. Eine Sprecherin bestätigt den Sachverhalt, Details sollen morgen Montag kommuniziert werden.
Der Gewerkschaftsdachverband Travailsuisse arbeitet bereits an Plänen, wie der Staat Geld eintreiben kann, um die Kosten der Pandemie aufzufangen: mittels einer Krisensteuer auf Unternehmensgewinne und Dividenden.
«Jene, die jetzt noch Gewinne erzielen oder diese sogar steigern, profitieren von der Krise. Da ist es nur gerecht, einen Teil dieser Erträge und Dividenden für den Staat abzuschöpfen», sagt Travailsuisse-Präsident Adrian Wüthrich (39).
Die auf fünf Jahre befristete Abgabe soll Löcher stopfen, die das Virus in die Staatskasse reisst. Wüthrich: «So verhindern wir, dass der Bund demnächst ein Sparpaket schnürt und nochmals jene zur Kasse bittet, die ohnehin derzeit am meisten unter der Krise leiden.»
«Switzerland first, für einmal.»
Wie hoch die Steuer veranschlagt werden müsste, ist noch offen. Sie soll sich an der Höhe der Krisen-Ausgaben des Bundes bemessen.
Mit mehr Staat gegen die Krise? Der Widerstand der bürgerlichen Parteien ist vorprogrammiert. «Die Wirtschaft wird einen Einbruch in zweistelliger Milliardenhöhe erleiden. Es ist nur logisch, dass wir künftig den Gürtel enger schnallen», sagt SVP-Präsident Albert Rösti (52). Konjunkturpakete könne sich die Schweiz da ebenso wenig leisten wie Geldspritzen für Kitas und Medien. Weiteres Sparpotenzial sieht Rösti bei der Entwicklungshilfe: «Switzerland first, für einmal.»
FDP-Parteipräsidentin Petra Gössi (44) stösst ins gleiche Horn: Ein völliger Investitionsstopp hätte zwar kontraproduktive Auswirkungen, aber: «Wir können uns nicht mehr alles leisten und müssen daher zielgerichtet investieren.» Konjunkturprogrammen «mit der Giesskanne» erteilt Gössi eine Absage. Vielmehr sei durch die Pandemie eine langfristige Steuerstrategie umso dringlicher geworden. Die wiederum sieht bei der FDP komplett anders aus als bei SP und Gewerkschaften. «Es müssen die richtigen Hebel gesetzt werden, damit die Schweiz nicht höhere Steuern von wenigen Firmen verlangen muss, sondern durch tiefe Steuern von vielen Firmen höhere Steuereinnahmen generieren kann», findet die FDP-Präsidentin.
Aber es gibt noch einen Mittelweg zwischen Konjunktur- und Sparprogramm: «Die Schweiz hat Spielraum für fiskalische Impulse», sagt Eric Scheidegger (58), Chef Wirtschaftspolitik beim Seco. «Und sie setzt die Impulse zeitnah, zielgerichtet und zeitlich befristet ein.» Dieser Strategie entspreche auch das Nothilfepaket des Bundesrats, so Scheidegger. «Es ist gut möglich, dass solche Impulse in der zweiten Jahreshälfte aufrechterhalten werden müssen.» Ein zweites Nothilfepaket steht also zur Diskussion.
Mit dem Keynes-Modell aus der Krise
Nach dem Willen von SP und Grünen soll es dagegen ein umfassendes Investitionsprogramm richten. Die Idee geht auf den weltberühmten britischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883–1946) zurück. Sein Rezept gegen die Grosse Depression der 1930er-Jahre: In einem wirtschaftlichen Abschwung muss der Staat die Nachfrage mit Konjunkturprogrammen ankurbeln. Das Keynes-Modell dominierte die Nachkriegszeit – auch in der Schweiz, wo seit 1975 mehrere Milliarden Franken für Beschaffungsprogramme ausgegeben wurden. 1997 setzte FDP-Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz (1936–1998) das bislang letzte Programm dieser Art hierzulande durch. Sein Parteikollege Rolf Büttiker (69) rief damals in den Nationalratssaal: «Keynes ist tot! Es lebe Keynes!»
Im neuen Jahrtausend aber begann eine Ära der staatlichen Zurückhaltung, der Great Moderation, wie es US-Notenbank-Chef Ben Bernanke (66) formulierte. Daran änderte auch die grosse Finanzkrise nach 2008 nichts. Zwar wurden die Finanzmärkte mit billigem Geld der Notenbanken geflutet. Doch die Zeit der grossen Konjunkturprogramme schien vorbei – bis die Zäsur der Corona-Krise jetzt offenbar eine neuerliche Verschiebung der Gewichte bewirkt.
«Wir brauchen einen Marshallplan für Europa», fordert EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (61) in Anlehnung an das milliardenschwere US-Hilfsprogramm für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Deutschlands Bundesfinanzminister Olaf Scholz (61) ist überzeugt: «Ein Konjunkturpaket ergibt Sinn, um die Wirtschaft anzukurbeln.» Doch der angesehene Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe (65) von der Uni Frankfurt steht solchen Forderungen kritisch gegenüber: «Gegenwärtig ist eine unmittelbare Intervention zur Bekämpfung der Pandemiefolgen etwa über Liquiditätshilfen geboten und sinnvoll», sagt er zu SonntagsBlick. «Darüber hinausgehende Konjunkturprogramme sehe ich hingegen skeptisch. Sie erhöhen die Staatsverschuldung und ändern nichts an den strukturellen Problemen einzelner Volkswirtschaften.»
«Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt dafür.»
Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez (48) plant stattdessen ein Grundeinkommen für Hunderttausende verarmter Haushalte. In der Schweiz wurde die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen 2016 von den Stimmbürgern abgelehnt.
Dennoch findet Oswald Sigg (76), ehemaliger Bundesratssprecher und einer der damaligen Initianten: «Jetzt braucht es einen neuen Anlauf.» Für Sigg ist klar: Dieses Mal müssten SP, Gewerkschaften und Grüne mitmachen. «Umso mehr, als wir künftig für die Finanzierung bestenfalls die Mikrosteuer auf dem Zahlungsverkehr einsetzen könnten.» Der renommierte Wirtschaftshistoriker Jakob Tanner (69) begrüsst Siggs Vorstoss: «Die Idee einer Grundsicherung der Bevölkerung in Krisenzeiten ist bedenkenswert. Eine solche Absicherung braucht eine experimentelle Testphase. Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt dafür.»
Swissmem-Direktor Stefan Brupbacher (52) kann mit solchen Überlegungen wenig anfangen. «Der Staat muss jetzt nicht noch mehr Geld ausgeben, sondern die Rahmenbedingungen verbessern, damit wir den wirtschaftlichen Schaden wettmachen können. Nötig ist die Abschaffung der Importzölle auf Industriegüter und eine befristete Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes.»
Es wäre die Rückkehr zur Great Moderation. Doch noch ist nichts entschieden. Die Corona-Krise hat nicht nur massive Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben. Sie verändert auch das Denken. Keynes ist tot? Wer weiss!