Hohe Zinsen, Inflation, schrumpfende Realeinkommen, Deutschland in der Rezession und China in der Deflation: Nach einfacher ökonomischer Logik müsste ein solcher Giftcocktail die Finanzmärkte in Panik versetzen und die Konsumentinnen und Konsumenten vor Schreck erstarren lassen.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Aktienkurse steigen, die Gewinne der meisten Unternehmen sprudeln und die Leute geben das Geld mit vollen Händen aus, vor allem für Ferien, Unterhaltung und Restaurantbesuche.
Das passt irgendwie nicht zusammen und entspricht ganz und gar nicht dem gängigen Bild eines Konjunkturzyklus mit Erholung, Boom, Überhitzung und Abschwung. Sind wir nun in einem Boom oder schon mitten im Abschwung?
Schwache Güternachfrage und starker Dienstleistungskonsum
Teile der Wirtschaft bewegen sich definitiv in Richtung Abschwung. Die Frühindikatoren aus der Industrie zeigen vor allem in Europa steil nach unten, auch in der Schweiz. Produktion und Auftragslage haben zum Teil Niveaus erreicht, die sonst nur in einer Rezession vorkommen. Die Güternachfrage war während der Pandemie nach oben geschossen – ein grösseres Auto, ein besserer Grill, alles bequem vom neuen Sofa aus bestellt – jetzt folgt der Kater.
Gleichzeitig setzt der scharfe Zinsanstieg den Immobilienmärkten zu, mancherorts mehr, etwa in Deutschland oder Schweden, mancherorts weniger – wie hierzulande.
Aber gleichzeitig stehen die Zeichen am Arbeitsmarkt auf Boom, und die Konsumlust scheint ungebremst. Das macht die aktuelle Makrolage so einzigartig und rätselhaft zugleich. Müssten die Unternehmen angesichts der trüben Aussichten nicht längst auf die Bremse treten und Stellen abbauen? Und wäre es nicht auch zu erwarten, dass die Konsumentinnen und Konsumenten den Gürtel jetzt enger schnallen, wenn die Kaufkraft wegen der Inflation abnimmt und die Mieten und die Hypothekarkosten steigen?
Beide Phänomene – der robuste Arbeitsmarkt und der stabile Konsum – hängen zusammen und haben ihre Ursache zum Teil in der Pandemie. Die Ausgabefreude ist nur möglich, weil noch so viel Erspartes aus der Zeit übrig ist, als der Konsum eingeschränkt war und die Einkommen dank der Corona-Hilfsgelder weiterliefen.
Ausserdem haben sich viele Bedürfnisse wie Auslandsreisen und Besuche von Veranstaltungen aufgestaut, die jetzt nachgeholt werden – zur Not auch auf Pump, wie US-Zahlen zu den Kreditkartenschulden zeigen. Diese Kreditorgie wiederum ist nur möglich, weil der Arbeitsmarkt so eng ist, das heisst, weil es viele offene Stellen gibt. Wer in den Genuss von Lohnerhöhungen gekommen ist und nicht um die Stelle fürchten muss, hat auch weniger Angst vor Schulden.
Vollbeschäftigung und Labour-Hoarding
Dass praktisch überall Vollbeschäftigung herrscht und Unternehmen über Personalmangel klagen, ist ebenfalls eine Folge von Corona. Die Pandemie hat viele zur Frühpensionierung oder zur Reduktion des Pensums bewogen. Und natürlich spielt auch der demografische Wandel eine Rolle, weil jetzt die Babyboomer in Pension gehen und eine grosse Lücke im Arbeitsmarkt hinterlassen.
Jetzt, da die Konjunktur an Schwung verliert, zögern die Unternehmen damit, Personal zu entlassen, weil sie wissen, wie schwierig es ist, wieder gute Leute zu finden. Ökonomen sprechen bereits von Labour-Hoarding, also dem Horten von Arbeitskräften.
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Das kann eine Weile lang gut gehen, aber nicht ewig. Die Arbeitslosigkeit bleibt zuerst tief, der Konsum stabil. Im Endeffekt bedeutet das Horten von Arbeitskräften aber, dass die Unternehmen mehr Personal beschäftigen, als ökonomisch sinnvoll ist. Sie können zwar auf Lohnerhöhungen verzichten. Die Löhne zu senken, gilt als unmöglich, weil es zu sehr auf die Moral der Angestellten schlägt.
Gewinnmargen unter Druck
Die in der Folge zu hohen Lohnkosten drücken auf die Profitabilität. Das heisst: Nun werden die Gewinnmargen der Unternehmen unter Druck kommen, nachdem sie diese in der Erholung zum Teil massiv ausweiten konnten. Selbst die US-Analystinnen und Analysten, die oft etwas zu optimistisch für ihre Unternehmen sind, erwarten in der laufenden Berichtssaison im Mittel einen Gewinnrückgang von 9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal. Das sind zuerst einmal schlechten Nachrichten für die Börsen.
In zweiter Linie werden aber auch die Konsumentinnen und Konsumenten und die Gesamtwirtschaft darunter leiden, wenn die Unternehmen mangels Gewinnen die Investitionen hinunterfahren und irgendwann dann doch auch beim Personal sparen müssen. Entlassungen sind dann auch ausserhalb des Tech-Sektors unvermeidlich.
Hinzu wird der Effekt der massiven Zinserhöhung auf die Wirtschaft erst mit Verzögerung voll durchschlagen. In den USA, wo die Leitzinsen von null auf 5 Prozent gehoben wurden und dreissigjährige Hypotheken mittlerweile 7 Prozent kosten, führte in der Vergangenheit jeder so kräftige Zinsanstieg in eine Rezession.
Sprich, irgendwann ist die Nach-Corona-Party dann wirklich vorbei.
In der Schweiz ist das Muster das Gleiche, wenn auch die Zahlen hier etwas kleiner sind und sich die durchschnittliche neue fünfjährige Festhypothek «nur» von 1 auf 3 Prozent verteuert hat.
Sollte die USA aber tatsächlich in eine Rezession schlittern, würde das die Schweiz vor allem über den Aussenhandel zu spüren bekommen. Ob der Binnenkonsum genug stabil bleibt, um die gesamte Wirtschaft vor einer Rezession zu bewahren, wird sich weisen.