Rund 68'000 Ukraine-Flüchtlinge leben in der Schweiz, doch nur 23 Prozent der Erwachsenen unter ihnen gehen nach zwei Jahren mit Flüchtlingsstatus einer bezahlten Arbeit nach. Es ist dies 2023 laut OECD – zusammen mit Italien – eine der tiefsten Erwerbsquoten im europäischen Vergleich, und die Frage stellt sich, was in der Schweiz schiefgelaufen ist. Denn die Flüchtlinge kosten das Gemeinwesen nicht nur Geld, sondern stehen auch in direkter Konkurrenz zu Ausländern und Ausländerinnen, die auf dem regulären Weg für Arbeit in die Schweiz kommen.
Das nährt zunehmend Kritik daran, dass Ukraine-Flüchtlinge das Privileg haben, zu bleiben, abzureisen oder einzureisen, wie es ihnen gefällt. Sie dürfen sich bis zwei Monate pro Jahr in der Ukraine aufhalten und behalten dennoch den Flüchtlingsstatus. Reisen ins Kriegsland sind einfach. So bietet etwa Flixbus die Fahrt von Zürich nach Kiew für 90 Franken an – achtmal täglich. Rund 25'000 Geflüchtete sind seit Kriegsanfang wieder aus der Schweiz abgereist.
So viel gibt der Bund für Ukraine-Flüchtlinge aus
Der sogenannte Schutzstatus S des Gesetzes, unter den die Geflüchteten fallen, erlaubt eine spontane Abreise. Pointiert gesagt: Die Schweiz investiert viel in Ukraine-Flüchtlinge, aber sie sind vielleicht schon morgen weg.
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Seit Kriegsbeginn vor zwei Jahren hat der Bund 2 Milliarden Franken für Unterkunft, Krankenversicherung, Betreuung, Job-Assessments und Sprachkurse der Flüchtlinge ausgegeben.
Bis Ende 2024 werden es 3 Milliarden Franken sein. Im nächsten Jahr kommen laut Voranschlag weitere 1,2 Milliarden hinzu, bei knappen Bundesbudgets – ein explosiv hoher Betrag, wenn man ihn etwa mit dem Agrarbudget von 3,6 Milliarden vergleicht.
Hinzu kommt, dass der Missbrauch des S-Regimes offenbar zunimmt. Einige Kantone haben eine nicht zu kleine Zahl von Status-S-Anwärtern und -Anwärterinnen entdeckt, die sich mit gefälschten ukrainischen Pässen den Aufenthalt erschleichen wollten. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) kontrolliert seitdem ausgiebig, was Mehraufwand generiert. Allein im Januar und Februar dieses Jahres kamen 3070 Anträge hinzu, aber nur 303 Geflüchteten wurde der Schutzstatus gewährt. 91 Personen wurde er trotz Ukraine-Pass verwehrt.
Die Kumulierung der Probleme schafft im Parlament und in den Kantonen erhebliches Unbehagen. Die Willkommenskultur ist am Erodieren. Flüchtlinge könnten «für gewisse Bevölkerungsgruppen eine Herausforderung darstellen», schreibt der Bundesrat in einem am Freitag publizierten Bericht. Und stellt die immer drängendere Frage: Wie steigt die Schweiz aus dem S-Regime aus?
Die Gangart wird härter
Der Bund, die Kantone und die Sozialpartner planen im April eine Beschäftigungsoffensive. Die Details sind geheim. Aber ein Punkt steht bereits fest: Die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) sollen die Flüchtlinge viel intensiver als bisher in Jobs vermitteln, denn ein grosses Problem ist das Matching von Nachfrage und Angebot. Der Schweizerische Arbeitgeberverband weiss von etlichen Unternehmen, die Ukrainerinnen und Ukrainer beschäftigen würden, jedoch «gar keine oder nur sehr wenige Bewerbungen erhalten», sagt Sprecher Jonas Lehner. Hier müssten die Vermittlungsstellen massiv zulegen.
Der Bundesrat hat kürzlich zwei Pflöcke eingeschlagen: Im Oktober stellte er einen Bericht vor, der die harten Folgen einer Aufhebung des S-Status umreisst, so zum Beispiel die Massenausweisung innert sechs bis neun Monaten per Ende Schuljahr, der Entzug der Arbeitsbewilligung und eine zwangsweise Rückkehr für nicht Ausreisewillige. Ein Ablaufdatum nannte der Bundesrat nicht.
Im November dann bestimmte der Bundesrat, dass im Inland alles zu unternehmen sei, damit bis Ende Jahr 40 Prozent der arbeitsfähigen Ukrainerinnen und Ukrainer einer Arbeit nachgehen. Das tönt nach viel, und man hört Zweifel, dass dies möglich sei. Gleichzeitig wissen die Behörden, dass etwa in den Niederlanden im August 2022, also nur sechs Monate nach Kriegsausbruch, bereits 40 Prozent aller Ukraine-Flüchtlinge einen Job hatten. Möglich wäre es also.
Flüchtlinge müssen sich intensiv um Stelle bemühen
Diese Botschaft hatte drei Empfängerkreise: die Kantone, die Arbeitgeber und die Flüchtlinge selbst. Die Kantone sind seitdem angehalten, eine härtere Gangart als bisher einzuschlagen, um die Schützlinge in den Arbeitsmarkt zu bringen. Die Wirtschaftsdachverbände wurden aufgefordert, den Integrationswilligen vermehrt Stellen anzubieten. «Die Arbeitgeber sind gebeten, den Ukrainerinnen und Ukrainern Chancen zu bieten», sagt der Sprecher des Staatssekretariats für Migration, Samuel Wyss, gegenüber der «Handelszeitung».
Und die Flüchtlinge müssen sich – nach zwei Jahren Assessments und Sprachkursen – jetzt intensiv um eine Stelle zu bemühen. Die Botschaft ist unmissverständlich: «Der Bundesrat erwartet von den Schutzsuchenden, dass sie arbeiten», sagt Wyss. Wer sind die Angesprochenen, und was sind die Hürden?
Problem 1: Wenig gesuchtes Berufsprofil
Als erwerbsfähig gelten unter den Ukraine-Flüchtlingen 40'000 Frauen und 13'000 Männer. Nach Ausbruch des Krieges hiess es, die Flüchtlinge seien gut ausgebildet, und ihr Englisch sei auf gutem Niveau. Ersteres hat sich bestätigt – 70 Prozent der Befragten haben einen höheren Schulabschluss deklariert. Doch eine Umfrage der Berner Fachhochschule im Auftrag des Bundes vor einem Jahr zeigte, dass nur 40 Prozent gute Englischkenntnisse und bloss 10 Prozent die «Kenntnis» einer Schweizer Landessprache hätten – und dies elf Monate nach Kriegsausbruch. Im Dezember lag der Wert bei 14 Prozent. Diese recht schwachen Sprachkenntnisse sind laut Arbeitgeberverband nach wie vor eine Hürde bei der Arbeitssuche.
Im Weiteren schälte die Studie den Umstand heraus, was kantonale Integrationsstellen seit längerem beobachten: dass viele Ukraine-Flüchtlinge aus dem Bereich Verwaltung und Geisteswissenschaften kommen. Dieses Profil setzt beruflich sehr gute Sprachkenntnisse voraus und ist hierzulande nicht sehr gesucht. Gesucht wären laut einer Umfrage Berufsprofile wie Qualitätsmanagement, IT-Support, Bautechnik, Anlagenbau, Montage oder Gesundheitspflege. Beispiel Kanton Zug: «Unter 400 Flüchtlingen hatten wir nur zwei Informatikerinnen und drei Frauen aus Pflegeberufen», sagt Markus Truttmann, verantwortlich für die berufliche Integration im Asylwesen. Dies mache die rasche Integration nicht einfacher.
Problem 2: Zu hohe Ansprüche an die Arbeit
Wie viele Etagen müssen Flüchtlinge heruntersteigen, um eine Anstellung zu erhalten? Einschlägige Erfahrung machte die Sozialvorsteherin von Aarburg, Martina Bircher. In der Gemeinde im Mittelland sind 25 Flüchtlinge untergebracht, die Hälfte davon arbeitet: «Wir konnten kürzlich mehrere junge Flüchtlinge mit festen Verträgen bei Schnellimbissketten unterbringen», sagt Bircher. Damit konnten sich diese von der Asylsozialhilfe abmelden.
Die Erfolge in ihrer Funktion machen die SVP-Nationalrätin zur Wortführerin in der Ukraine-Politik. Im Parlament drängt sie seit letztem Sommer auf eine raschere berufliche Integration als bisher. Dabei beruft sie sich auf die Methoden in den Niederlanden und in Dänemark, wo über die Hälfte der Flüchtlinge integriert sind – 55 Prozent, wovon 53 Prozent in einer Vollzeitstelle arbeiten, wie die «New York Times» im Februar berichtete. Davon ist die Schweiz meilenweit entfernt.
Bircher sagt: «Für einen Ukraine-Flüchtling ist es besser, einen schlecht bezahlten Job anzunehmen als gar keinen. Wer arbeitet, ist beruflich integriert, lernt die Sprache schneller und hat grössere Chancen, beruflich aufzusteigen.» Sie glaubt, dass viele Kantone die Flüchtlinge zu sanft anfassen, sie zu häufig bezüglich Arbeitssuche entschuldigen – etwa wegen fehlender Sprachkenntnis oder zu hohem Ausbildungsniveau – und deshalb zu wenig Druck auf sie ausüben, eine Arbeit zu finden.
Diese Kantone gelten als Vorbilder
Eine ähnliche Auffassung teilt Markus Truttmann. Er blickt über 820 Personen im S-Status. «Es gibt zwei grosse Erfolgsfaktoren, um eine Arbeit zu finden: gute Sprachkenntnisse und die Bereitschaft, eine statustiefere Arbeit anzunehmen», sagt er. Diese Erkenntnis, beruflich tiefer einzusteigen, als es der vorangehenden Tätigkeit entspricht, brauche eine gewisse Zeit, sagt Truttmann. Er nennt Positivbeispiele von Ukrainerinnen mit Hochschulabschluss, die zunächst Hotelbetten machten, nach drei Monaten, bereits an der Rezeption standen und später weiter aufstiegen. Im Beispiel der Niederlande ist es so, dass dort die Hälfte aller Angestellten in der Gastronomie, in der Landwirtschaft und im Gartenbau arbeitet, wo die Hochschulausbildung wenig nützt.
Zug gilt als Vorbild, ebenso der Aargau – und Graubünden. Der Treiber der beruflichen Integration ist hier der Tourismus, der eine wesentliche Nachfrage generiert, insbesondere die Hotels und Restaurants. Im Bergkanton hatten Ende Februar 31 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge eine Anstellung.
Am anderen Ende der Skala steht Genf mit einer beruflichen Integrationsrate von 10 Prozent. Berichte aus der Romandie lassen darauf schliessen, dass die Ukraine-Flüchtlinge dort mit den gleichen Strukturen wie Asylbewerbende betreut werden. Der Druck, eine Stelle zu finden, ist eher klein. Von Fachleuten werden überwiegend die Probleme und nicht die Chancen der Flüchtlinge betont. Man klopft sich in Genf auf die Schultern, mit 10 Prozent Integrationsrate schon viel erreicht zu haben.
Problem 3: Unattraktive Perspektive für Arbeitgeber
Während die Perspektive der Flüchtlinge mittlerweile gut untersucht ist, gibt es keine Schweizer Studie, die zeigt, wie es um die Bereitschaft der Unternehmen steht, Ukraine-Flüchtlinge einzustellen. Die in Medien beschriebenen Einzelfälle zeigen beide Extreme: beherzte Patrons, die in grosser Zahl Arbeitswillige integrieren – und umgekehrt Flüchtlingen, die sich fortlaufend bewerben, aber dauernd Absagen erhalten. Markus Truttmann aus Zug sagt, der Kanton könne die Arbeitgeber nicht dazu zwingen, eine Ukrainerin oder einen Ukrainer einzustellen.
Ein Problem sei laut Arbeitgeber die fehlende Sprachkenntnis. Bund und Kantone hätten noch Luft nach oben in der Ausbildung. Truttmann fügt an, dass es am Anfang keine Intensivsprachkurse gegeben habe. Dies habe sich mittlerweile geändert: Sein Kanton bietet jungen Flüchtlingen halbtägige Sprachkurse an, um schneller voranzukommen. Der Experte warnt aber vor der Idee, dass ein Flüchtling innert ein paar Monaten Deutsch spreche. «Ein bis zwei Jahre braucht es, um auf das Sprachniveau A2 zu kommen. Erst ab diesem Level erfüllt man die Voraussetzungen, um vom RAV vermittelt zu werden», sagt Truttmann.
Möglicherweise ist aber auch der Anspruch von Schweizer Firmen an die Sprachkenntnisse höher als in den Niederlanden oder in Dänemark. Davon berichten sowohl Geflüchtete wie auch Fachleute. Der Arbeitgeberverband erklärt es so: «Ein gewisses Level an Kommunikationsfähigkeiten – ob mit Mitarbeitenden, Vorgesetzten oder der Kundschaft – ist wichtig», sagt Sprecher Jonas Lehner. Dies gelte umso mehr für Branchen, in denen es zu Kundenkontakt komme.
Risiko: Abwandern jederzeit möglich
Ein zweites, grosses Problem: Wirkliche Integration ist gar nicht vorgesehen. Der Status S ist rückkehrorientiert. So steht es im Gesetz. In der Schweiz gilt, die Flüchtlinge so zu fördern, dass sie zurückkehren könnten. Der Bund setzt auf den Ansatz des «dual intent» (doppelten Zwecks), der von der OECD empfohlen wird. Die Förderung solle möglichst früh beginnen, um Untätigkeit zu vermeiden und die Menschen gezielt zu unterstützen, heisst es beim SEM. «Bund und Kantone setzen dabei vor allem bei den Jungen auf das Prinzip Arbeit durch Bildung. Jugendliche und junge Erwachsene sollen eine berufliche oder eine andere Ausbildung machen, damit die Erwerbsintegration nachhaltig gelingt», erklärt Adrian Gerber, Leiter Integration beim Bund.
Von der Bereitschaft der Geflüchteten, hierzubleiben, hängt wiederum die Bereitschaft der Firmen ab, in diese zu investieren. Bei Jobs mit langer Einarbeitungszeit ist das Risiko der jederzeit möglichen Abwanderung «ein echtes Problem», so Markus Truttmann. Der Arbeitgeberverband verlangt Planungssicherheit, was den Status S betreffe. «Dies gilt insbesondere dort, bei denen eine längere Einarbeitungszeit nötig ist», sagt der Verbandssprecher.
Bis heute gilt gemäss Gesetz, dass kein berufstätiger Flüchtling nach Beendigung seines Status S in der Schweiz bleiben darf. Dies wird als Fehler erkannt. Beim Bund gibt es deshalb Überlegungen, diesen Passus im Gesetz zu ändern. Nationalrätin Martina Bircher etwa ist dagegen, aber Exponenten der Mitte-Partei lobbyieren dafür.
Debatte um effizientere Integrationsmethode
Am Ende werden sich die Kantone auf eine Integrationsmethode festlegen müssen: Soll die schnelle Methode «Bircher» oder «Zug» gelten oder die langsame Methode «Genf»? Der Bund schwört derzeit alle Kantone auf eine beschleunigte Methode ein, denn der Kriegsausgang ist ungewiss. Erwogen wird etwa, den Sozialämtern Order zu geben, die Fürsorgeleistungen zu kürzen, sollten die Flüchtlinge nicht integrationswillig sein – wie es das Gesetz erlaubt. Davor ist man bisher zurückgeschreckt. Bircher würde es begrüssen.
Truttmann hat im Asylbereich beobachtet, dass bei gewissen Leuten die Bereitschaft zunimmt, einen Job anzunehmen, wenn man ihnen in Aussicht stellt, die Sozialbeiträge zu kürzen. Vor einem Jahr deklarierten 49 Prozent der Befragten, nicht auf Stellensuche zu sein. Jüngere Untersuchungen gibt es nicht, aber der Wert dürfte gestiegen sein. Im vergangenen September verdiente die Hälfte aller ukrainischen Beschäftigten im S-Status über 3000 Franken, 14 Prozent gar über 5000 Franken. Sie konnten die Sozialämter hinter sich lassen.
Der Status S gilt noch per März 2025. Jetzt blicken alle auf den Bundesrat. Wird er ihn erneut um ein Jahr verlängern? Die Dachgewerkschaft Travail.Suisse fordert es: «Damit würde man den Personen mit S-Status eine klarere Integrationsperspektive geben und den Arbeitgebern eine Einstellungsperspektive», sagt Sprecherin Lisa Schädel.
Weil die Schweiz diesen Status nicht ohne Koordination mit der EU aufheben kann, wäre es klug, wenn der Bund jetzt damit beginnt, nicht mehr von rückkehrorientiert zu sprechen und stattdessen die Flüchtlinge auffordert, sich zu entscheiden: Bleibe und integriere dich, oder wandere zurück.