1974 nannte die Arbeitsgruppe Dritte Welt Bern ihre Studie «Nestlé tötet Babys» und kritisierte das Marketing, das dazu führe, dass stillfähige Mütter ihren Babys lieber Nestlés Milchpulver verabreichten und dieses mit verunreinigtem Wasser zubereiteten. In späteren Jahren wurde dem weltweit grössten Nahrungsmittelkonzern vieles vorgeworfen: Tierversuche, Kinderarbeit, die Zerstörung des Regenwaldes und die Gewinnung von Flaschenwasser, das je nach Region zu einem Absinken des Grundwasserspiegels führte.
Nestlé wurde zu einem Lieblingsfeind der NGOs. Wer Nestlé bashte, war stets auf der sicheren Seite. Denn alles, was «multinational» ist und erfolgreich Milliarden umsetzt, ist für viele bereits des Teufels. Man vergisst dabei gern, dass es nicht Secondhand-Shops sind, die Schulen, Spitäler und Sozialsysteme finanzieren. Trotzdem muss Kritik geübt werden, wenn Kritik angebracht ist. Aber 1974 ist nicht 2022.
Der Konzern hat sich gewandelt
Der Naturforscher Alexander von Humboldt (1769–1859) sagte einst, die gefährlichste aller Weltanschauungen sei die Weltanschauung derer, die sich die Welt nie angeschaut haben. Hat einer der Anti-Nestlé-Demonstranten jemals einen Geschäftsbericht von Nestlé gelesen?
2017 wurde der deutsche Mark Schneider CEO und begann im Eiltempo einen Konzern umzukrempeln, der in 189 Ländern 328'000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Das zu Recht kritisierte Wassergeschäft in den USA wurde grösstenteils abgestossen, Schneider steckte rund eine Milliarde in fleischlose Ernährung, stufenweise Reduktion von Zucker und Salz, umweltfreundliche Verpackungen und nachhaltiges Wirtschaften. Nicht zur Freude aller Aktionäre. Haben die Nestlé-Hater diesen Wandel nicht mitbekommen? Auch wenn die Motive mehrheitlich geschäftlicher Natur sind, ändert es nichts daran, dass der Konzern grüner wird, als man sich das jemals hätte vorstellen können.
Zur Sofa-Kritik gibts einen Nespresso
Nach «Nestlé tötet Babys» skandiert man heute, dass Nestlé Putins barbarischen Krieg mitfinanziert. Aus diesem Narrativ lassen sich eindrückliche Fotomontagen kreieren. Doch es geht nicht um Rohstoffe, Elektronik oder militärisch nutzbares Material, das den Krieg verlängern würde. Es geht um Nahrungsmittel, die in Russland für den russischen Markt produziert werden und 7000 Angestellten (und ihren Familien) ein geregeltes Einkommen sichern. Ähnlich wie Nestlé verfahren auch Konkurrenten wie Mondelez, Danone und Unilever.
Man kann das kritisieren, wenn man abends friedlich in einem Wohnzimmer sitzt, das mit russischem Gas geheizt wird, und dabei eine Pizza Buitoni (Nestlé) isst, anschliessend einen Becher Häagen-Dazs (Nestlé) geniesst und sich zum Abschluss einen Nespresso genehmigt.
Boykott, den man selber spürt
Ein Kollege von mir lebt in Russland, ist in der Ukraine geboren, dort lebt auch seine gesamte Verwandtschaft. Putins Krieg hat seinen internationalen Onlineshop ruiniert. Bei einem Produktions- und Lieferstopp von Grundnahrungsmitteln würde sich die Wut nicht gegen Putin richten, sondern gegen den Westen. Das würde eine Normalisierung nach Kriegsende doch erheblich erschweren.
Wer wirklich Putin mit Boykotten finanziell austrocknen will, muss aufhören, täglich (!) für 660 Millionen Euro russisches Gas und Öl zu importieren und in Kauf nehmen, dass auch eigene Betriebe lahmgelegt werden und zu Hause ein bisschen gefroren wird. Frieren für den Frieden? Lieber nicht, werden einige sagen, und eine gelb-blaue Fahne aus dem Fenster hängen und ein paar bunte Smarties (Nestlé) einwerfen.
Claude Cueni (66) ist Schriftsteller und Blick-Kolumnist. Er lebt in Basel.