Der Eingang zum Hochhaus an der Avenue du Lignon 1 ist hinter Baugerüsten versteckt. Sie bedecken einen Teil der Fassade und reichen fast bis zum zehnten Stock. Es ist die erste energetische Sanierung seit 1971, als der 26 Etagen hohe Turm als Teil der Cité du Lignon in Vernier GE fertiggestellt wurde.
Im 24. Stock des 91 Meter hohen Wohnturms lebt Gabrielle Falquet (66). Sie kann dem Baugerüst beim Wachsen zuschauen. Bald wird es ihre Etage erreichen. Fassade, Türen und Fenster werden dann auch bei ihr erneuert. Die Sanierung ist längst überfällig: Im Wohnzimmer wächst ein Wasserfleck, die Tapete blättert ab. Und doch gibt es für Falquet keinen Ort, an dem sie lieber leben würde.
Die Cité du Lignon wurde zwischen 1963 und 1971 ursprünglich für 10'000 Bewohner erstellt, um der Wohnungsnot Einhalt zu gebieten. Heute leben in der über einen Kilometer langen Wohnsiedlung über 7500 Menschen in fast 2800 Wohnungen. 158 Millionen Franken kostete der Bau. Als ikonisches Gebäude der Nachkriegsarchitektur steht die Siedlung heute unter Denkmalschutz.
Die Bewohner haben das Sagen
«Der Blick in die Ferne, die Nähe zur Natur und der Stadt sowie die bezahlbare Miete machen Le Lignon für mich so attraktiv», sagt Falquet. Seit sie zwölf Jahre alt ist, lebt sie hier. Zuerst mit den Eltern und den zwei Geschwistern in einer kleinen Dreizimmerwohnung, seit 25 Jahren nun im 24. Stock – fünf Zimmer mit Balkon für 1980 Franken im Monat. Inklusive Nebenkosten. «In Genf sind die Mieten unbezahlbar», sagt sie.
Ein Teil der Siedlung ist im Besitz der Anlagestiftungen Pensimo und Turidomus des Immobilienfonds Swissinvest. Auch die Pensionskasse des Kantons Zürich ist beteiligt. Das Sagen haben hier jedoch die Bewohner. «Im Turm gegenüber sollten zusätzliche Eigentumswohnungen entstehen, da gab es Proteste», erzählt die 66-Jährige.
Für ihr Viertel und die Gemeinde hat sich Falquet immer schon engagiert – zwölf Jahre lang als Bürgermeisterin von Vernier, davor als Lehrerin und Schuldirektorin. Seit zwei Jahren ist sie pensioniert. Mit dem Fernglas steht die 66-Jährige gern am Küchenfenster, beobachtet die Schwäne weit unten an der Rhone und macht Rehe aus, die ab und zu auf der Wiese äsen. Und am nahe gelegenen Flughafen Genf sieht sie den Flugzeugen beim Starten und Landen zu.
Eine kleine Stadt für sich
Auf ihrem Balkon hat sie zwei Stunden Sonne am Tag, ein kühler Wind weht hier fast immer. Der Blick geht weit, bis über die Grenze nach Frankreich. Unten fliesst die Rhone, gesäumt von Bäumen und Wiesen. Ihre Nachbarn sind Brasilianer, Franzosen, Kurden und Kosovaren. «110 Nationalitäten leben hier zusammen. Darunter Junge, Alte, Familien und Singles», erzählt Falquet. Streitereien gebe es fast keine. Le Lignon sei eine kleine Stadt für sich. Jeder, der hier lebt, identifiziere sich mit der Siedlung.
Dass Le Lignon über die Stadtgrenze hinweg nicht immer einen guten Ruf geniesse, finde sie schade. «Le Lignon wird gerne mit den Banlieues von Paris verglichen, aber das ist nicht korrekt.» Es sei weder gefährlich noch heruntergekommen.
Und wer hier lebt, der muss die Siedlung – ausser für die Arbeit – eigentlich nicht verlassen: Neben Migros und Coop gibt es einen Bauernmarkt, eine Primarschule, Kirchen, ein medizinisches Zentrum, Restaurants, Jugend- und Seniorentreffs. «Für jeden ist etwas dabei», sagt Falquet. «Wer hier aufwächst, der bleibt.»
Lesen Sie morgen: Warum die Zürcher Hardau-Wohntürme so beliebt sind
Die Genfer Cité du Lignon hatte einen zweifelhaften Ruf. Ende der 90er-Jahre lag die Siedlung in der kantonalen Kriminalstatistik weit vorne. Die Zeiten haben sich geändert. Heute bewegen sich die Zahlen im Rahmen. Ein Grund dafür könnte in der gezielten Durchmischung der Überbauung liegen: Neben Mietwohnungen gibt es Eigentum und subventionierten Wohnraum. Zudem hat Le Lignon mit Einkaufszentren und Schulen eine stabile Quartierinfrastruktur. Einst berichtete sogar das französische Fernsehen TF1 aus Le Lignon. Es wollte zeigen, wie Frankreich die Probleme in seinen Banlieues lösen könnte.
Die Genfer Cité du Lignon hatte einen zweifelhaften Ruf. Ende der 90er-Jahre lag die Siedlung in der kantonalen Kriminalstatistik weit vorne. Die Zeiten haben sich geändert. Heute bewegen sich die Zahlen im Rahmen. Ein Grund dafür könnte in der gezielten Durchmischung der Überbauung liegen: Neben Mietwohnungen gibt es Eigentum und subventionierten Wohnraum. Zudem hat Le Lignon mit Einkaufszentren und Schulen eine stabile Quartierinfrastruktur. Einst berichtete sogar das französische Fernsehen TF1 aus Le Lignon. Es wollte zeigen, wie Frankreich die Probleme in seinen Banlieues lösen könnte.