Fritz Zurbrügg (54) war der Garant des Mindestkurses bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB). Sein Departement war technisch dafür verantwortlich, dass der Euro seit dem 6. September 2011 nie unter 1.20 Franken abgesackt ist. Dafür gab die SNB gegen 300 Milliarden Franken aus. Am letzten Donnerstag war Schluss. Zurbrüggs Leute stellten die Euro-Käufe ein.
BLICK: Die Überraschung war perfekt, als die SNB letzte Woche die sofortige Aufhebung des Mindestkurses bekannt gab. Wann hat das Direktorium mit Ihnen, Präsident Thomas Jordan und Jean-Pierre Danthine den Entscheid gefällt?
Fritz Zurbrügg: Der genaue Zeitpunkt ist nicht so wichtig. Wir haben schon lange darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen sich der Mindestkurs aufrechterhalten lässt. Als wir sahen, dass sich die Situation in der letzten Zeit zuspitzte und wir immer mehr Euro kaufen mussten, erfolgte die Entscheidung relativ rasch.
Die Schweizer Börse reagierte heftiger als nach den Terroranschlägen am 11. September 2001. In zwei Handelstagen wurden 170 Milliarden Franken vernichtet. Haben Sie mit einer solchen Schockwelle gerechnet?
Wir wussten, dass wir die Märkte überraschen würden. Das Ausmass der Reaktion war heftig und schwierig vorauszusehen.
Mehr als drei Jahre lang bezeichnete die SNB den Mindestkurs als unverzichtbar. Nun hebt sie ihn auf. Das stellt die Glaubwürdigkeit der Notenbank in Frage!
Nein, im Gegenteil. Wir haben immer gewusst, dass wir einen Ausstieg nicht kommunikativ vorbereiten können. Eine Vorwarnung wäre eine Einladung an Spekulanten gewesen. Auch wichtig für die Glaubwürdigkeit ist, dass der Entscheid nicht vorab bekannt wurde. Das ist uns gelungen.
Wie gross war der Kreis, der vom Entscheid wusste?
Wir haben ihn möglichst klein gehalten. Jede zusätzliche Person ist ein zusätzliches Risiko.
Die Aufhebung hat zu heftiger Kritik geführt. Im Zentrum der Angriffe steht SNB-Präsident Thomas Jordan. Ist es ein bewusster Entscheid, dass Sie nun dieses Interview geben?
Die Aufhebung des Mindestkurses war kein Einzelentscheid von Thomas Jordan. Wir sind ein Gremium, das alle Entscheidungen gemeinsam trifft. Wir haben zu dritt die Verantwortung übernommen.
Die SNB hat mit ihren Euro-Käufen den Euro gestützt. Die Europäische Zentralbank (EZB) will den Euro aber schwächen. Hat EZB-Präsident Draghi die SNB aufgefordert, den Mindestkurs aufzugeben?
Sicher nicht, wir sind eine unabhängige Zentralbank und nehmen von niemandem Weisungen entgegen.
Was war dann der Grund für den plötzlichen Ausstieg?
Seit einiger Zeit driftete die Wirtschaftsentwicklung in der Eurozone und in den USA auseinander. Es gab eine starke Aufwertung des Dollars zum Euro. Weil der Franken durch den Mindestkurs dem Euro folgte, gab es eine starke Abwertung des Frankens gegenüber dem Dollar. Vor diesem Hintergrund war der Mindestkurs nicht mehr gerechtfertigt. Er wäre nur noch mit sehr hohen Interventionen aufrechtzuerhalten gewesen.
Wie hoch?
Sehr hoch. In den Tagen vor dem Entscheid wurden die Interventionsbeträge immer grösser. Hochgerechnet auf einen Monat hätten wir allein im Januar für rund 100 Milliarden Franken intervenieren müssen.
Bis jetzt sind Sie dieses Risiko eingegangen und haben Euro gekauft, warum jetzt nicht mehr?
Solange es geldpolitisch Sinn machte, waren wir bereit, diese Risiken auf uns zu nehmen. Wir haben aber erkannt, dass eine unkontrollierbare Zunahme dieser Risiken in keinem Verhältnis mehr stand zum geldpolitischen Nutzen. Es waren Milliardenbeträge, die täglich rausgingen, und es bestand keine Aussicht auf ein Ende.
Warum haben Sie den Mindestkurs nicht schrittweise gesenkt, zum Beispiel auf 1.10 Franken?
Wir haben alle Optionen geprüft. Auch einen Mindestkurs, der sich aus Euro und Dollar zusammensetzt. Wir kamen aber zum Schluss, dass langfristig die Freigabe des Wechselkurses die beste Option ist.
Aber ein Boden hätte Stabilität gebracht.
Ein neuer Mindestkurs hätte nur zu weiteren spekulativen Geldflüssen geführt. Deshalb wollten wir uns ganz davon verabschieden. Es war uns wichtig, dass der Wechselkurs wieder vermehrt fluktuieren kann.
Die Marktkräfte sind verzerrt. Alle Länder versuchen, ihre Währung zu schwächen.
Es gibt tatsächlich grosse weltwirtschaftliche Verzerrungen durch die Interventionen der Zentralbanken. Ein Festhalten am Mindestkurs hätte aber zu einer sehr, sehr starken Erhöhung unserer Bilanz geführt. Dadurch wären wir langfristig Gefahr gelaufen, die Kontrolle über unsere Geldpolitik zu verlieren.
Die Dollar-Aufwertung und die schwache Konjunktur in Europa waren seit einiger Zeit absehbar. Warum hat die SNB nicht früher die Konsequenzen gezogen?
Für so einen schwierigen Entscheid gibt es keinen optimalen Zeitpunkt. In letzter Zeit hat der Druck aber massiv zugenommen. Es bestand keine Aussicht, dass der Druck nachgeben wird.
War die Einführung des Mindestkurses aus heutiger Sicht ein Fehler?
Nein, wir kamen damals aus der tiefsten Rezession der letzten 50 Jahre heraus. Die Märkte waren sehr verunsichert, die Schwankungen sehr gross. In dieser Situation war es richtig, den Mindestkurs einzuführen. Er machte aber nur so lange Sinn, als die Aussicht bestand, dass sich die Situation normalisiert. Das ist leider nicht eingetreten.
Die SNB hatte gehofft, dass sich das Problem löst und der Euro sich von 1.20 Franken entfernt. Eine Fehleinschätzung?
Damals war die Massnahme richtig. Niemand konnte aber voraussehen, dass die ausserordentlich schwierige Situation so lange anhält.
Die Aufgabe der SNB ist die Wahrung der Preisstabilität. Seit letzter Woche sind die Preise im freien Fall. Hat die SNB ihr Mandat verletzt?
Nein. Durch die Aufhebung wird die Inflation zwar weiter abgeschwächt. Es ist aber nur ein einmaliger und vorübergehender Effekt. Mittel- und langfristig ist die Preisstabilität nicht gefährdet. Wir haben keine Anzeichen für eine Deflationsspirale.
Was sagen Sie einem Unternehmer, der seine Wettbewerbsfähigkeit verloren hat?
Es ist uns bewusst, dass unser Entscheid eine grosse Herausforderung für Teile der Wirtschaft darstellt. Die Unternehmer wissen aber, dass der Schweizer Franken in den letzten 40 Jahren immer wieder grossen Schwankungen ausgesetzt war. Sie wissen auch, dass der Franken sich über die lange Frist tendenziell aufwertet. Es ist gleichwohl völlig klar, dass schockartige Aufwertungen schwierig aufzufangen sind. Die Unternehmer haben meinen grössten Respekt.
Rechnen Sie mit einer Rezession?
Für Prognosen ist es zu früh. Die Schweizer Wirtschaft ist in einer guten Verfassung. Sie wuchs letztes Jahr mit zwei Prozent, die Arbeitslosigkeit ist tief, die Nachfrage stark. Aber es gibt nun eine Dämpfung des Wirtschaftswachstums. Das Ausmass ist davon abhängig, wo sich die Aufwertung einpendelt.
Was passiert, wenn der Franken auf dem heutigen Stand bleibt?
Darüber möchte ich nicht spekulieren. Der Franken ist heute klar überbewertet, die Märkte überschiessen. Wir gehen davon aus, dass diese Situation nicht anhält.
Was unternimmt die SNB, wenn die Überbewertung bleibt?
Wenn es zu aussergewöhnlichen Bewegungen kommt, die geldpolitisch nicht vertretbar sind, sind wir bereit, wieder aktiv zu werden. Aber nochmals: Der Franken ist überbewertet. Die Negativzinsen treten erst heute Donnerstag in Kraft. Der Franken wird für alle Investoren damit noch weniger attraktiv.
Ist eine Rückkehr zum Mindestkurs eine Option?
Wir haben uns vom Mindestkurs abgekehrt. Geldpolitisch halten wir uns immer alle Optionen offen.
Wie stark ist die Belastung, wenn man am Anfang eines globalen Erdbebens steht?
Ich leite das III. Departement, das für die operationelle Umsetzung des Mindestkurses und seiner Aufhebung verantwortlich ist. Am meisten belastet hat mich, dass die Operation durch einen Fehler hätte schieflaufen können und jemand ungerechtfertigt Milliarden verdient hätte.
Dann sind Sie jetzt beruhigt, dass keine Panne passiert ist?
Ich bin doppelt beruhigt. Unsere Leute haben operationell hervorragende Arbeit geleistet. Ich bin aber auch tief überzeugt, dass der Entscheid richtig war. Das empfinde ich als Entlastung. Im Moment bin ich allerdings ein bisschen heiser, weil ich so viel erklären muss – was ich selbstverständlich gerne mache.