Die 64-jährige Helen Rufer erklimmt die Leiter. Im Büro von Gordana Klaric (56) in Zug hängt sie die Vorhänge auf. Die Rentnerin Rufer bekommt für ihre Hilfe eine Stunde auf ihr Zeitkonto bei der lokalen Kiss-Genossenschaft in Zug gutgeschrieben.
Die Idee dahinter: Wer freiwillig während einer Stunde Betreuungsaufgaben übernimmt, kann diese Leistung auf dem Zeitkonto sammeln. Und dafür später Dienstleistungen beziehen.
Mit dem alternativen Vorsorgemodell kann Rufer dereinst gratis Hilfe anfordern, wenn sie darauf angewiesen ist. Auf ihrem Zeitguthaben haben sich bislang 30 bis 40 Stunden angesammelt. «Diese vierte Säule gibt mir Sicherheit», sagt sie.
Sie gehört als alleinstehende Frau, die neben der Kinderbetreuung Teilzeit gearbeitet hatte, zur Gruppe von Rentnerinnen, die eine vergleichsweise tiefe Vorsorgerente beziehen. BLICK berichtete diese Woche über die Vorsorgelücke von Frauen, die jahrelang unbezahlte Betreuungsarbeit leisteten und nur wenig Pensionskassenvermögen aufbauen konnten.
Pensionierte Frauen sind am aktivsten
Jetzt wird Rufer für ihre Betreuungsarbeit mit Zeitgutscheinen entgolten. Ohne ihre Unterstützung wäre Gordana Klaric dieser Tage ziemlich aufgeschmissen. Sie hat sich die Rippe verstaucht. Just im Moment, wo ihr Büro wegen eines Wasserschadens geflutet wurde. Rufer half ihr schon beim Ausräumen, jetzt geht es ums Wiedereinrichten.
«Für mich ist es eine grosse Beruhigung, dass ich gratis Hilfe anfragen kann», sagt Klaric zu BLICK. Diese auch anzunehmen, muss sie zuerst noch lernen. Bisher war Klaric für Kiss vor allem selber für ältere Menschen im Einsatz.
Die meisten Freiwilligen, die ihre Zeitvorsorge aufbauen, seien zwischen 65 und 75 Jahren alt, sagt Susanna Fassbind (76). Drei Viertel davon seien Frauen. Die ehemalige ETH-Dozentin hat das bisher schweizweit einmalige Prinzip der Altersvorsorge auf der Basis von Zeit mit drei Mitgründerinnen 2011 in der Schweiz eingeführt.
Grosser Mangel an Seniorenbetreuung zu Hause
Am meisten nachgefragt würden Betreuungsleistungen. «Hier besteht ein grosser Mangel, vor allem bei Menschen, die zu Hause leben, aber auf Hilfe angewiesen sind», erklärt Fassbind. Ziel sei es, mit dem freiwilligen Engagement älteren Menschen den Verbleib in den eigenen vier Wänden länger zu ermöglichen.
Hierzulande würden 40 Prozent der Rentnerinnen nur von der AHV leben. Für viele seien die Leistungen der Spitex zu teuer. Professionelle Pflege ersetzten Kiss-Einsätze nicht. Dennoch könnten Gemeinden Kosten sparen. Dies, weil die Dienstleistungen zu Hause meistens günstiger ausfallen als im Alters- und Pflegeheim.
Gemeinden sparen Heimkosten
Die Nachfrage ist gross. Allein letztes Jahr haben die über 2000 Freiwillige von zehn regionalen Kiss-Genossenschaften schweizweit 40’000 Stunden geleistet. Die Stadt Zug beispielsweise bewertet eine Betreuungsstunde mit 40 Franken. Neben Spenden finanzieren sich die Genossenschaften auch mit Beiträgen aus Gemeinden, die Betreuungskosten sparen können.
Natürlich beziehen die ältesten Mitglieder am meisten Leistungen. Befinden sie sich stark im Minus, deckt ein genossenschaftlicher Pool die Negativ-Guthaben. Wie bei der Einführung der AHV brauche die erste Generation älterer Kiss-Mitglieder kein eigenes Stundenguthaben, um Leistungen in Anspruch zu nehmen, erklärt Fassbind.
Ob jemand arm oder reich ist, macht bei Kiss keinen Unterschied. Klaric meint dazu: «Zeit und Lebensqualität, wie Kiss sie bietet, kann nicht mit Geld erworben werden.»
Die Stiftung Kiss ist die schweizweite Dachorganisation, in der regionale Genossenschaften geldfreie Nachbarschaftshilfe organisieren. Diese soll als vierte geldfreie Vorsorgesäule eine Ergänzung zu den drei bestehenden Säulen der Altersvorsorge sein.
Die Koordinatorinnen von Kiss organisieren für ihre freiwillig tätigen Mitglieder begleitete Betreuungsdienstleistungen. Die Freiwilligen bekommen dafür Zeitgutschriften. Diese können sie später oder sofort für den Bezug von Dienstleistungen einsetzen.
Neben den zehn bestehenden Genossenschaften gibt es 20 Gruppen, die in der Gründungsphase sind. Die Genossenschaftsmitgliedschaft kostet einmal 100 Franken. Pro Woche dürfen aufs Jahr gerechnet sechs Freiwilligenstunden geleistet werden – also rund 320 Stunden jährlich.
Im stark überalterten Japan gibt es seit zwei Jahrzehnten ein ähnliches alternatives Vorsorgemodell. Weil auch hierzulande die Menschen immer älter werden, können die Genossenschaften von Kiss einen wichtigen Beitrag leisten: Sie wollen mit ihren Betreuungsangeboten Senioren ermöglichen, gar nicht oder so spät wie möglich ins Heim zu müssen. Ein Auswertung in der Stadt Zug zeigte, dass die ungedeckten Heimkosten seit den Kiss-Aktivitäten deutlich gesenkt werden konnten. Claudia Gnehm
Die Stiftung Kiss ist die schweizweite Dachorganisation, in der regionale Genossenschaften geldfreie Nachbarschaftshilfe organisieren. Diese soll als vierte geldfreie Vorsorgesäule eine Ergänzung zu den drei bestehenden Säulen der Altersvorsorge sein.
Die Koordinatorinnen von Kiss organisieren für ihre freiwillig tätigen Mitglieder begleitete Betreuungsdienstleistungen. Die Freiwilligen bekommen dafür Zeitgutschriften. Diese können sie später oder sofort für den Bezug von Dienstleistungen einsetzen.
Neben den zehn bestehenden Genossenschaften gibt es 20 Gruppen, die in der Gründungsphase sind. Die Genossenschaftsmitgliedschaft kostet einmal 100 Franken. Pro Woche dürfen aufs Jahr gerechnet sechs Freiwilligenstunden geleistet werden – also rund 320 Stunden jährlich.
Im stark überalterten Japan gibt es seit zwei Jahrzehnten ein ähnliches alternatives Vorsorgemodell. Weil auch hierzulande die Menschen immer älter werden, können die Genossenschaften von Kiss einen wichtigen Beitrag leisten: Sie wollen mit ihren Betreuungsangeboten Senioren ermöglichen, gar nicht oder so spät wie möglich ins Heim zu müssen. Ein Auswertung in der Stadt Zug zeigte, dass die ungedeckten Heimkosten seit den Kiss-Aktivitäten deutlich gesenkt werden konnten. Claudia Gnehm