Übers Wochenende hat – mit monatelanger Verspätung – der Herbst eingesetzt. In den vergangenen Jahren war der Herbst gleichbedeutend mit einem Anziehen der Corona-Fallzahlen, mit Aufrufen zur Impfauffrischung, mit ÖV-Fahrgästen, die sich wieder häufiger eine Maske aufsetzten. Und in diesem Herbst? Der Bund empfiehlt die Impfung nur noch über 65-Jährigen und besonders gefährdeten Personen. Maskenträger sind im ÖV die absolute Ausnahme. Können wir das Coronavirus nun ein für alle Mal ignorieren? Blick hat Tanja Stadler (42), Biostatistikerin an der ETH Zürich und ehemalige Leiterin der Covid-Taskforce, nach einem Ausblick auf die kalte Jahreszeit gefragt. Wie zu Pandemie-Zeiten treffen wir uns per Videocall – allerdings aus rein praktischen Gründen.
Frau Stadler, im Umfeld ist wieder vermehrt von Corona-Infektionen zu hören. Ist das Zufall – oder stellen Sie das ebenfalls fest?
Tanja Stadler: Die Viruszirkulation nimmt seit Ende der Sommerferien tatsächlich wieder zu, das zeigen die Abwassermessungen an 15 verschiedenen Standorten in der Schweiz. Ich gehe davon aus, dass die Zirkulation im Winter noch mal ansteigen wird, weil die Immunität in der Bevölkerung abgenommen hat und wir uns wieder mehr drinnen aufhalten.
Muss uns das Sorgen bereiten?
Für Personen, die nicht zu einer Risikogruppe gehören, sind die akuten Folgen einer Infektion meistens nicht gefährlich. Doch wir wissen immer noch wenig über die langfristigen Folgen. Etwa dazu, wie häufig erst bei einer wiederholten Infektion Post-Covid-Symptome auftreten. Ältere Menschen oder immunsupprimierte Personen haben nach wie vor ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf, insbesondere wenn die Impfung nicht aufgefrischt wurde.
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Wir müssen aber nicht erneut mit einer Belastungsprobe für die Spitäler rechnen?
Ich rechne sicher nicht damit, dass wir noch mal so viele schwere Fälle haben wie etwa im Herbst 2020. Allerdings: Unsere Spitäler sind im Winter generell gefordert, das war schon vor der Pandemie so. Es zirkulieren RSV, Influenza und andere respiratorische Viren. Nun kommt mit SARS-CoV-2 ein weiteres Virus dazu, welches die Spitäler im Winter Jahr für Jahr zusätzlich fordern wird.
Die Mathematikerin und Biostatistikerin Tanja Stadler (42) ist Professorin für computergestützte Evolution an der ETH Zürich. Sie leitete die wissenschaftliche Corona-Taskforce des Bundes bis zu deren Auflösung im Frühling 2022. Mittlerweile ist sie Präsidentin des wissenschaftlichen Beratungsgremiums Covid-19, der Nachfolge-Organisation der Taskforce. Die gebürtige Deutsche wohnt in Basel und ist Mutter zweier Kinder.
Die Mathematikerin und Biostatistikerin Tanja Stadler (42) ist Professorin für computergestützte Evolution an der ETH Zürich. Sie leitete die wissenschaftliche Corona-Taskforce des Bundes bis zu deren Auflösung im Frühling 2022. Mittlerweile ist sie Präsidentin des wissenschaftlichen Beratungsgremiums Covid-19, der Nachfolge-Organisation der Taskforce. Die gebürtige Deutsche wohnt in Basel und ist Mutter zweier Kinder.
Heisst das, unsere Spitäler sind nicht ausreichend vorbereitet?
Doch, aber unser System ist nun mal so ausgelegt, dass es im Winter punktuell eng werden kann. Wir haben kein Gesundheitswesen, das stets viel Luft nach oben lässt, das würde sehr viel kosten. Wichtig ist aber: Solange kein Gamechanger auftaucht, keine ganz neue Virusvariante, werden die Intensivstationen nicht mehr an den Anschlag kommen.
Apropos Varianten: Im Spätsommer machte BA.2.86, auch bekannt als Pirola, Schlagzeilen. Später stellte sich heraus, dass die Variante gar nicht zu schwereren Verläufen führt. Warum sind wir so verbohrt auf die Suche nach neuen Coronavirus-Varianten?
SARS-CoV-2 ist immer noch ein relativ neues Virus. Das heisst auch: Es entwickelt sich schnell weiter. Die neuste Variante BA.2.86 hat in der Wissenschaft Aufsehen erregt, weil der Sprung in der Entwicklung gleich gross war wie von Delta zu Omikron. Es bestand die Befürchtung, dass sich diese Variante sehr schnell ausbreiten könnte. Neueste Untersuchungen geben dahingehend jedoch Entwarnung. Übrigens wird auch bei Influenza ständig nach neuen Varianten Ausschau gehalten. Dies unter anderem, um die Grippe-Impfung darauf anzupassen.
Wenn Sie wählen könnten, würden Sie sich lieber mit der Grippe oder mit dem Coronavirus anstecken?
Am liebsten weder noch! Aber tatsächlich haben wir es dank der Impfung geschafft, die Gefährlichkeit des Coronavirus zu senken. SARS-CoV-2 und Influenza sind jetzt vergleichbar, zumindest mit Blick auf die akute Infektion. Nur zu den Langzeitfolgen wissen wir bei Covid weniger.
Lohnt es sich da überhaupt noch, einen Coronatest zu machen, wenn man krank wird?
Bei Menschen mit einem Risiko für schwere Verläufe: Ja. Denn eine frühe Behandlung kann den Krankheitsverlauf mildern. Alle anderen müssen sich nicht unbedingt testen. Aber es gilt: Bei Symptomen zu Hause bleiben! Egal, ob man Covid, Influenza oder ein anderes Virus hat. Wenn man doch nach draussen muss, sollte man eine FFP2-Maske tragen.
Gibt es andere Situationen, in denen Sie weiterhin Maske tragen?
Ja, wenn es in Innenräumen sehr voll und unbelüftet ist. Erst kürzlich war ich im ÖV, es war voll und rundum wurde gehustet und geschnieft. Da ziehe ich aus Selbstschutz eine Maske an. Auch im Kontakt mit vulnerablen Menschen ziehe ich eine Maske an. Ich könnte ja asymptomatisch – also ohne es zu wissen – mit einem Virus infiziert sein und möchte dieses Virus nicht weitergeben. Ich trage mittlerweile immer eine Maske in der Handtasche, genauso wie ich Taschentücher oder mein Handy dabeihabe.